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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe
Autoren: Ronaldo Wrobel
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er beiläufig hinzu: »Genauso wenig, wie ich glaube, dass Marlene Franz vergessen hat.«
    Ein tolles Paar, dachte ich.
    »Marlene und ich haben uns immer etwas vorgemacht,uns aber nie wirklich betrogen. Wenn das keine Liebe ist, was dann?«
    * * *
    Ich sah Max zum letzten Mal an einem Sonntag im Sommer. Ganz Rio sonnte sich am Strand, als er mich in einer »dringenden Angelegenheit« zu sich rief, ohne nähere Einzelheiten zu nennen. Er stand in einem leichten, hellen Anzug und breitkrempigem Hut vor dem Haus. Bevor er in den Wagen stieg, hob er einen Stein vom Boden auf.
    »Den will ich auf Fanys Grab legen. Kennen Sie den Weg nach Inhaúma?«
    Oj wej, dachte ich. Ich hatte keine Ahnung, wie man dorthin kam. Viertel wie Inhaúma, Pilares oder Cascadura gehörten für mich zu einem Knäuel von Vororten ohne Anfang und Ende. Ich war aufgeschmissen!
    »Fahren Sie nach Méier, immer der Straßenbahnlinie nach.«
    Ach ja, die Alten und ihre Schrullen. Ich legte den Gang ein.
    »Wie kommen Sie mit Ihrem Roman voran?«
    »Sehr gut«, behauptete ich.
    Das stimmte nicht. Genau genommen hatte ich immer noch damit zu kämpfen, dass Marlene Braun seine Frau gewesen war. Als wäre das nicht genug, fragte ich mich jetzt auch noch, ob Hannah jemals existiert hatte. Es hätte den Schuhmacher natürlichverletzt, dass ich ihm misstraute und mich getäuscht fühlte. Was den Roman betraf, so hatte ich nicht mehr als ein paar Skizzen in der Schublade, inzwischen war ich aber im Internet auf einen gewissen William Staub gestoßen, der im Zweiten Weltkrieg Oberst der brasilianischen Expeditionsstreitkräfte gewesen war. Leider war er seit mehr als zwanzig Jahren tot. Außerdem entdeckte ich, dass die staatliche Briefzensur bis 1948 anhielt, also noch nachdem Vargas aus dem Regierungspalast ausgezogen und seine Diktatur beendet war. Im Jüdischen Museum erfuhr ich, dass die Polackinnen bis 1968 in einem Verband organisiert waren, Jahre bevor ihre Synagoge dem Bau der Metro an der Praça Onze weichen musste. Von dem Platz selbst war nichts mehr übrig, er war in den vierziger Jahren den Planierraupen der Avenida Presidente Vargas zum Opfer gefallen. Von der Candelária-Kirche bis zur Cidade Nova waren mehr als fünfhundert Häuser plattgewalzt worden, alles im Namen des Vargas’schen Fortschritts. Die letzten Scherben jüdischer Kultur in diesem heutzutage verunstalteten Teil von Rio de Janeiro wurden nach und nach beseitigt, bis nichts mehr übrig war.
    »Ich will ihn als Erster zu lesen bekommen! Haben Sie schon einen Titel?«
    »Hannahs Briefe«, antwortete ich gedankenlos und stellte das Radio an. Wozu sollte ich ihm von meiner Verunsicherung während der letzten Monate erzählen? Ich wollte lieber nicht darüber sprechen, dass in den Archiven nirgends die Rede von einem GelbenHaus war und dass es im Topas-Haus – das tatsächlich in Rio Comprido stand – nur sechs Wohnungen pro Etage gab und kein Apartment 310, in dem Hannah angeblich gewohnt hatte.
    Sicher hätte ich all diese Unstimmigkeiten seinem Alter zuschreiben oder mir eingestehen können, dass mein besessenes Festhalten an der Wirklichkeit nur meine Angst davor vertuschen sollte, endlich mit der Arbeit zu beginnen. In der Woche zuvor hatte ich die ehemalige Hauptwache in der Rua da Relação fotografiert, heute ein finsterer, in Vergessenheit geratener Palast – so ergeht es allen Verdammten, wenn sie nicht mehr an der Macht sind. Ich war mit dem Boot zur Ilha de Paquetá gefahren, um mir den Vogelfriedhof anzusehen, eine malerische Anhöhe, an deren Eingang ich einen verblüfften (um nicht zu sagen unbeschäftigten) Wächter fragte, ob es ein Verzeichnis mit den Namen der Toten gebe. Er starrte mich an und sagte kein Wort. Kurz darauf half ich einem weinenden Kind, in einem Schuhkarton sein, wie ich annahm, geliebtes Haustier zu beerdigen, das sich allerdings als Hähnchenkeule mit Gemüse entpuppte.
    »Ich hab meiner Mama gesagt, dass ich das nicht mag«, quengelte der Junge.
    Jedenfalls dachte ich mir dauernd irgendeinen Quatsch aus, um das Projekt hinauszuzögern.
    Die Gegend wurde immer unansehnlicher, zu unserer Rechten häuften sich die Schlaglöcher, links lag eine Favela. Wir fuhren durch grauenhafte Siedlungen,dazwischen Autowracks, Müll und verwahrloste Plätze. Und das nannte sich Cidade Maravilhosa, die »Wunderbare Stadt«?
    Neben mir saß Max und hielt ein Nickerchen. Der Stein in seinem Schoß beschwor einen jahrtausendealten, mir rätselhaften Brauch
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