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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe
Autoren: Ronaldo Wrobel
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um. Ich wachte völlig anämisch im Krankenhaus auf. Eine Woche lang behielten sie michda. Und als ich mich erholt hatte und wieder auf die Straße trat, fasste ich den schwersten Entschluss meines Lebens. Nicht, dass ich aufgegeben hätte, sie zu finden, das nicht, aber ich gab es auf, nach ihr zu suchen.«
    Max wischte sich mit einer Serviette den Mund ab.
    »Wissen Sie, junger Mann, wenn man jemanden sucht, ist der einzige Trost die Gewissheit, dass der Gesuchte nicht gefunden werden will. Wenn ich sie nur noch ein einziges Mal hätte sehen können, hätte ich ihr gesagt, was ich in den Straßen von Santos gelernt hatte. Dass Lebewohl zu sagen weniger schlimm ist, als es nicht zu hören.«
    »Das glaube ich nicht!« Ich legte den Löffel hin. »Sie gaben Hannah auf?«
    »Ja.«
    »Für immer? Das kann nicht wahr sein!«
    »Warum nicht?«
    »Na ja … weil es nicht sein kann!«
    Der Schuhmacher sah mich nachsichtig an. Er hatte etwas Barmherziges, wie ein Weiser, der die Einfalt seiner Schüler untergräbt.
    »Die Frau da, das ist sie doch!« Ich deutete auf das Bild.
    »Oh, ja, meine Frau. Dachten Sie, das wäre Hannah?«
    Ich reagierte ungehalten.
    »Was hätte ich denn sonst denken sollen?«
    Max breitete die Arme aus.
    »Gütiger Himmel! Glauben Sie, man kann sechzigJahre lang mit einer Frau zusammenleben, die man so sehr liebt wie ich Hannah?«
    »Glauben Sie denn, man kann mit jemandem zusammenleben, den man nicht so sehr liebt?«
    »Ich will Ihnen eines sagen!« Max geriet in Fahrt. »Es gibt zwei Typen von Menschen: Die einen bringen uns zum Träumen, und die anderen halten uns wach. Zwei völlig verschiedene Typen, ja? Und meine Frau war selbstverständlich der zweite Typ. Oder glauben Sie, ich hätte es sechzig Jahre lang mit Hannah ausgehalten? Unsinn! Liebe und Respekt sind für den Alltag nicht geschaffen, junger Mann!« Er zeigte nach oben. »Die Menschen lieben und respektieren Gott nur, weil sie nicht das Bad mit ihm teilen müssen!«
    Ich war sprachlos. Denn wer, wenn nicht Hannah, war die alte Frau, die Max an seinem hundertsten Geburtstag im Berg-Sinai-Klub geküsst hatte? Wen hatte er gegen den Willen der Rabbiner geehelicht? Wer hatte den »Klub der Großmutter« gegen sich aufgebracht und die alten Wunden der Praça Onze wieder aufgewärmt? Eine andere Polackin? Das war absurd! Wer auch immer es sein mochte, Tatsache ist, dass ich auf diesen Ausgang nicht vorbereitet war. Ich wollte eine Liebesgeschichte schreiben, nicht eine des Scheiterns und der Resignation, die in den dreißiger Jahren angefangen und geendet hatte.
    »Ich war nicht das einzige Opfer von Hannah Kutner«, betonte der Schuhmacher. »Leutnant Staub, den Armen, hat sie in den Wahnsinn getrieben. Er fingan, Befehle zu missachten, und wollte partout nicht mehr aus Santos weg. Sie lieferten ihn in ein Sanatorium in Campos do Jordão ein. Aber Staub entfloh, kehrte nach Santos zurück und wurde gesehen, wie er in einem kleinen Boot über die Flüsse ruderte. Eines Tages sollte er entschädigt werden.«
    »Wie das?«
    »Staub entdeckte eine Fischerkolonie, sie hieß Ilha Diana und lag versteckt in einer Flussbiegung. Einfache Holzhäuser, Erdboden, vielleicht gerade mal zwanzig Familien. Nicht mal Strom hatten sie. Hannah und Guita waren mit einem Kanu dorthin gelangt und eine Woche geblieben. Sie hatten in Hängematten geschlafen, Fische und Früchte gegessen, im Fluss gebadet, den Männern den Kopf verdreht und den Frauen das Rezept für Gefilte Fisch beigebracht. Sie lachten die ganze Zeit, dachten sich Quatsch aus und redeten irgendwelchen Unsinn, den niemand verstand. Dann fuhren sie weiter.«
    »Wohin?«
    »Weiß der Himmel, aber das Kanu wurde in der Nähe vom Hafen in Santos gefunden. Wahrscheinlich sind sie auf ein Schiff gestiegen und in eine andere Welt verschwunden …«
    »… und lebten glücklich bis an ihr Lebensende«, fügte ich sarkastisch hinzu.
    Die Suppe war inzwischen ein dickflüssiger Brei. Ich konnte meine Enttäuschung nicht verbergen und kaute lustlos auf einem Stück Brot herum, nur um meine Hände zu beschäftigen.
    »Und wer ist das?«, fragte ich und deutete wieder auf das Bild.
    »Wollen Sie das wirklich wissen?« Max sah mich schelmisch an. »Soll ich es Ihnen sagen?«
    »Warum nicht?«
    »Also gut. Kehren wir zurück nach Santos, zu dem Tag, an dem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Für mich gab es dort nichts mehr zu tun, es war Zeit, nach Hause zurückzukehren. Ich packte meinen Koffer und
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