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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe
Autoren: Ronaldo Wrobel
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der Gedanke an ihre so unvereinbaren – und dank ihrer Kämpfernatur doch gemeinsamen – Lebensweisen brachte sie um den Verstand. Sie würde alles nur Erdenkliche tun, um das eine vom anderen zu trennen. Solange Hannah sie nicht nur liebte, sondern auch bewunderte, war noch nicht alles verloren.
    In Ushuaia versüßte Guita einer Strafvollzugsanstaltden Winter, bevor sie sich 1931 im kosmopolitischen Buenos Aires niederließ. In der Branche war eine gewisse Panik ausgebrochen, nachdem zwei Jahre zuvor die Anschuldigungen einer alten Polackin zum Zusammenbruch der Zwi Migdal geführt hatten. Innerhalb weniger Monate waren der Organisation sämtliche Tentakel entfernt worden. Plötzlich gab es keine Bordelle mehr, keine Fassaden, keine Hilfsfonds und nicht mal den prächtigen Sitz in der Avenida Córdoba. Gestern noch millionenschwere Zuhälter sahen sich auf einmal beschnitten wie die Schafe in Patagonien, Flüchtlinge, ohne einen Nickel, um sich ein neues Leben aufzubauen. So wie Jayme.
    Der Zufall wollte es, dass die beiden sich ein Apartment in La Plata teilten, in der Nähe von Buenos Aires. Guita mochte den Kerl nicht, in Wirklichkeit hieß er Augusto Strizanski, war ehemaliger Schatzmeister der Zwi Migdal und wurde in ganz Südamerika von der Polizei gesucht. Acht Jahre lang verließ er so gut wie nie das Zimmer, während seine Zimmergenossin ihren Körper verkaufte, um ihren Traum zu verwirklichen, ihre Schwester in Rio de Janeiro zu besuchen. Indem sie mit den Angestellten eines Großindustriellen ins Bett ging, hatte sie immerhin eine vornehme Adresse vorzuweisen. Guita verstrickte sich in den Briefen, die Max übersetzte, in einem Netz von Lügen, behauptete, sie bewege sich nur noch in aristokratischen Kreisen, empfange zu Hause Botschafter et cetera pp. In Wahrheit schmuggelte sie Drogen und sogar Waffen, wurde verhaftet und misshandelt und vondem Taugenichts ausgebeutet, den sie ihren Mann nannte. Eines kalten Frühlings organisierte sie ihm einen Pass, der noch falscher war als der noble Aufzug, in dem sie im Hafen von Buenos Aires einen Dampfer bestiegen.
    Während ihres Treffens in Rio de Janeiro im Jahr 1939 hatte Jayme die Anweisung, nur das Nötigste zu sagen und sich ansonsten Zigarren in den Mund zu stecken, damit er möglichst wenig Unsinn redete. Haziendas, Orangen, Kaffee? Alles Märchen. Kurz, eine Farce, die der, die Hannah und Max ihnen vorspielten, in nichts nachstand. Das reinste Theater. Wer hätte gedacht, dass Guita und Jayme erst am Abend ihres Essens im Hotel Glória abstiegen? Wer hätte gedacht, dass Guitas feine Kleider aus zweiter Hand stammten und ihr allerlei Entbehrungen abverlangt hatten? Wer hätte gedacht, dass Guita und Hannah von ein und derselben Hydra verschlungen worden waren und sie ein Schicksal einte, von dem sie glaubten, es trenne sie? Guita und Hannah hatten einander belogen, um die einzige ihnen gebliebene Wahrheit zu erhalten: ihre gegenseitige Liebe.
    Als Guita den Schuhmacher in der Polizeiwache in Santos erblickte, strampelte und schrie sie und geriet so außer sich, dass sie mit einer Spritze ruhiggestellt werden musste. Am nächsten Morgen lag sie in einem Krankenhausbett.
    »Tötet mich von mir aus, aber erzählt bitte Hannah nichts davon!«
    Max, der sich über sich selbst wunderte, erwiderte: »Keine Sorge, ich sage nichts.«
    Außerdem versprach er, zu vergessen, dass Augusto Strizanski, auch Jayme genannt, der »Haifisch« war, der der Polizei ins Netz gegangen war. Er hatte sich in der Zelle die Pulsadern aufgeschnitten, um in den Armen seiner »kleinen Hure« zu sterben, wie er seine Lebensgefährtin nannte.
    »Sie darf es auf keinen Fall erfahren, auf gar keinen Fall …« Guita wand sich, in ihre Verbände gewickelt, im Bett. »Um Gottes willen, bitte kein Wort!«
    Mit diesen Worten im Ohr verließ der Schuhmacher das Zimmer, in Begleitung eines Leutnants, der ihn direkt zum Luftstützpunkt von Santos brachte. Die Maschine startete um zehn Uhr morgens. Seinen Versprechungen zum Trotz war Max entschlossen, Hannah die Wahrheit zu sagen – und zwar so schnell wie möglich. Er stellte sich den Schreck vor, den ungläubigen Blick, die Mischung aus Entsetzen und Erleichterung. Auf einmal sah die Welt ganz anders aus. All die Schuld, die sie auf sich genommen hatte, die Angst, die immer da war. Max würde seine Worte wohl dosieren und so zugleich Vorspiel, treibende Kraft und Komplize sein, wenn Hannah die Wahrheit kennenlernte – und sie dabei
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