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Halloween

Halloween

Titel: Halloween
Autoren: Stewart O'Nan
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Nacht vorbei, die Linien und Schilder und Leitplanken, die ihr Leben schützen sollen. Ein entgegenkommender Wagen schaltet sein lila Fernlicht aus, und die Straßenlaternen gleiten wie Bläschen über Tims Windschutzscheibe. Im Radio läuft Garbage –
I think I’m paranoid, and complicated.
Das Lied hat Unrecht; er ist keins von beidem, bloß müde und leer. Er ist schon unheimlich oft die 44 langgefahren, hat aber nicht das Gefühl, dass ihn mit dem Parkplatz von La Trattoria oder dem Acura-Händler mit den Reihen unverkaufter Wagen irgendetwas verbindet. Beides könnte auch woanders sein. Er könnte sonst wer sein.
    Vorn an der Ecke, wo der Rotary Club Kürbisse und Weihnachtsbäume verkauft, hält ein klotziger Chevy aus den Achtzigern und kriecht dann vor ihm auf die 44 – ein Betrunkener oder ein alter Knacker. Tim denkt, dass der Wagen sich auf der rechten Spur einordnet, aber er kommt immer weiter rüber. Er kann es kaum glauben – der Typ muss ihn doch sehen –, doch der Chevy schiebt sich direkt in sein Scheinwerferlicht. Tim drückt auf die Hupe und tritt im letzten Moment auf die Bremse, reißt den Jeep nach rechts und fährt innen vorbei.
    «Was ist los, bist du völlig übergeschnappt?» Tim reißt die rechte Hand hoch und zeigt dem Kerl durchs Heckfenster den Mittelfinger. Es ist vorbei, aber sein Herz schlägt immer noch bis zum Hals, und der Wutausbruch macht einer seltsamen Mischungvon Gefühlen Platz. Er ist überrascht; er hat nicht damit gerechnet, dass er Angst haben würde.
    «Tim, bist du wahnsinnig?», fragt Kyle in dem trägen, ruhigen Tonfall, an den sich Tim nie gewöhnen wird.
    «Nein», sagt Tim. «Alles okay mit dir?»
    «Ja.»
    «Verdammter Idiot, so bescheuert da rauszufahren.»
    «Sag so was nicht», sagt Kyle, denn er hat zu Hause Ärger gekriegt, weil er geflucht hat. Ein paar von den Kassiererinnen haben ihm Schimpfworte beigebracht, und Tim hat Kyles Mom versprochen, er werde das unterbinden.
    «Tut mir Leid», sagt Tim. «Scheiße Scheiße Scheiße Scheiße Scheiße.»
    Kyle bemüht sich, ernst zu bleiben, und presst die Lippen zusammen – wie ein kleiner Junge, denkt Tim wieder (denn anders kann er ihn nicht mehr sehen) –, aber dann bricht er in hilfloses Gelächter aus über das witzige, verbotene Wort.
    «Scheiße», wiederholt Kyle probehalber und wartet, um zu sehen, ob es in Ordnung ist.
    «Okay», sagt Tim. «Aber bring mich nicht in Schwierigkeiten, okay?»
     
    Als Brooks wieder am Stop’n’Shop vorbeikommt, sind sie schon weg, das Ladenschild dunkel. Er würde am liebsten nach ihnen sehen, sich vergewissern, ob mit ihnen alles okay ist. Er ist ihnen schon öfter nach Hause gefolgt, hat gesehen, wie Tim Kyle abgesetzt hat und dann rückwärts aus der langen Einfahrt gefahren ist, hat vom Wagen aus alles beobachtet wie ein Spanner, wenn das Verandalicht ausgeht. Wenn er daran zurückdenkt, dann sieht er sich gezwungen, Melissa zuzustimmen, ihr zu verzeihen, dass sie ihn verlassen hat, obwohl er weiß, wie sich das für sie anhören würde – Anlass für einen weiteren Streit.
    Um Mitternacht hat er zu viel Zeit.
    Er fährt zur Mobil-Tankstelle und sitzt im Lichtschein der Zapfsäulen, bis seine Beine unruhig werden. Er kann nicht acht Stunden ohne Unterbrechung sitzen, also wählt er ein Einkaufszentrum aus, das er länger nicht inspiziert hat, parkt quer auf den markierten Parkplätzen, holt seine Taschenlampe raus und kontrolliert ein paar Geschäfte, die kalte Luft und das ferne Rauschen des unsichtbaren Verkehrs sind erfrischend. Seine Atemwölkchen erinnern ihn daran, dass er noch am Leben ist – dass die ganze Masse aus Knochen, Zellgewebe und Körpersäften zusammenarbeitet –, als hätte er es vergessen. (Ach, und glaub bloß nicht, dass er nicht mit uns tauschen würde. Aber das wäre zu einfach, Brooksie, du bist bloß einer und du bist schon alt. Wir haben noch das ganze Leben vor uns. Wir sind die Zukunft, weißt du noch?)
    Die Türen sind verschlossen. Mit der Hand beschirmt er die Augen und starrt durchs Schaufenster des Artful Framer auf eine Wand voll vergoldeter Rahmen, beim Bagelz auf leere Tische. Irgendwas an diesen Läden kommt Brooks improvisiert und unwirklich vor. Als er noch klein war, gab es all das hier nicht, und die Asphaltinseln mit den Läden waren noch Ackerland. Die 44 war zweispurig, mit einem durchgezogenen weißen Mittelstreifen und unkrautbewachsenen Straßengräben auf beiden Seiten. (Er sieht weiße Schmetterlinge, die
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