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Halbmast

Halbmast

Titel: Halbmast
Autoren: Sandra Lüpkes
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weiter. Ihr schnellte das schwere Türblatt entgegen und warf sie samt Seesack beinahe um. Rücksicht war noch nie eine von Leifs herausragenden Charaktereigenschaften gewesen.
    Als bei der Redaktionskonferenz bekannt gegeben wurde, wer denn nun die begehrte Reportage bei der Überführung des bislang größten und luxuriösesten in Deutschland gebauten Kreuzfahrtschiffes machen sollte, da war ihr aus dem Kollegenkreis eine Mischung aus Glückwunsch und Beileidsbekundung zuteil geworden. Klar wollte jeder nach Ostfriesland und auf das Schiff, eine solche Dokumentation steht nicht jeden Tag auf dem Programm. Vierundzwanzig Stunden mit einem Ozeanriesen auf einem schmalen Flüsschen Richtung Nordsee unterwegs sein. Doch mit Leif Minnesang?Da musste man abwägen. War das Thema reizvoll genug, dass man einen Besserwisser und Nörgler an seiner Seite ertragen konnte? Und das über mehrere Tage? Leif Minnesang war einer der älteren in der Redaktion, Mitte bis Ende vierzig, Berufserfahrung aus allen möglichen Ländern, sogar Kriegsberichterstattung. Aber dieses Wissen schmierte er gern jedem aufs Brot. Er galt zweifelsohne als einer der besten beim
Objektiv
. Zudem stammte er hier aus der Gegend, hatte seine Jugend in den siebziger Jahren in Emden verbracht. Es war klar, er war die Idealbesetzung für diese Reportage.
    Sie hatte bereits eine dreistündige Autofahrt mit ihm hinter sich. Obwohl Leif Minnesang, aus welchen Gründen auch immer, keinen Führerschein besaß, musste sie sich während der ganzen Fahrt vom Redaktionsbüro in Hamburg bis nach Ostfriesland seine klugen Ratschläge über Fahrweise, Abkürzungen und optimalen Benzinverbrauch anhören. Mehrmals hätte sie am liebsten angehalten und ihn aus dem Auto geschmissen. Verdient hätte er es.
    «Das Casino aus dem Blickwinkel eines Jetons», sagte Leif. Er hielt sich den Mini-Disc-Recorder vor den Mund, um seine Gedanken auf eine kleine CD zu bannen. So machte er es immer. Aus diesem Grund schien jedes seiner Worte gleich ein besonderes Gewicht zu bekommen. «Den Pool aus der Vogelperspektive, die Küche in der Flucht.» Er ließ an einer Flurkreuzung seinen Koffer stehen und schaute sich um. «Und diese Gänge als 18 0-Grad -Panorama.»
    «Minnesang, hör mal zu: Du bist der Mann fürs Wort. Aber ich werde die Fotos machen!»
    Er ließ den Recorder sinken. «Du kannst nicht irgendwelche Fotos machen. Wir müssen dieselbe Sprache sprechen, du in Bildern und ich mit meinen Worten. Und das gelingt uns nur, wenn wir uns austauschen. Rund um die Uhr!»
    «Klar doch!» Carolin verdrehte die Augen. Minnesang war bekannt dafür, dass er sich gern und oft in die Arbeit anderer einmischte und das dann als
konspirativen Austausch
bezeichnete. «Wir haben aber, hoffe ich zumindest, getrennte Kabinen. Bitte klopf nicht nachts an meine Tür, weil du irgendetwas mit mir
austauschen
willst. Verstanden?» Carolins Schlagfertigkeit war eine ihrer liebsten Waffen, um sich vor Menschen wie Leif Minnesang zu behaupten.
    Er schnaubte kurz. Niemand, den sie sonst kannte, machte ein solches Geräusch. Wie ein unzufriedenes Pferd ließ er beim Ausatmen die Lippen gegeneinander vibrieren. Irgendwie passte es jedoch zu ihm, zu seiner kleinen, drahtigen Gestalt. Minnesang brachte mit Sicherheit kaum siebzig Kilo auf die Waage und wirkte ständig konzentriert, wie auf der Hut, mit seinen hochgezogenen Schultern und den besonders hervorstehenden Sehnensträngen am Hals. Wäre er nicht so angespannt gewesen, dann hätte er attraktiv sein können, denn seine dunklen, nur an wenigen Stellen mit grauen Strähnchen durchsetzten Haare waren schön dicht und glänzend und seine durchdringenden hellblauen Augen von schwarzen Wimpern gesäumt. Lachfalten besaß er keine, dafür eine ausgeprägte Denkerstirn und strenge Kerben um den Mund. Noch nie hatte er blass oder ungesund ausgesehen, aber immer leicht nervös, wie im Fieber.
    Er war schwer zu durchschauen. Vielleicht arbeitete deshalb niemand von der Bildredaktion gern mit ihm zusammen. Er ließ keinen an sich heran, nahm so gut wie nie an gemeinsamen Unternehmungen nach Feierabend teil, auch nicht, wenn man eine besonders gute Auflagenzahl des
Objektiv
zu begießen hatte. Vielleicht genoss er es auch, sich geheimnisvoll zu geben.
    Sie gingen weiter, das hieß: Er ging weiter und hastete mit seinem Gepäck durch die Gänge. Carolin folgte ihm stolperndund hatte keine Zweifel, dass er genau wusste, wo sie steckten und wohin sie gehen mussten.
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