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Halbmast

Halbmast

Titel: Halbmast
Autoren: Sandra Lüpkes
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letzten Wochen und Monate waren nicht gerade ruhmreich gewesen. Sie hatte die attraktivsten Aufträge zugeteilt bekommen und jedes Mal nur Durchschnittsware abgeliefert. Auch wenn die Chefredakteure stets anerkennend gelächelt hatten, sie selbst war mit ihren Bildern nicht hundertprozentig zufrieden gewesen. «Deine Bilder sind toll. Du hast nur zu hohe Ansprüche an dich», trösteten ihre Mitbewohnerinnen sie gern und ausgiebig, wenn sie ihren Frust bei einer WG-internen Weinprobe zu kompensieren versuchte. Aber es war schwer, den Anspruch runterzuschrauben, denn immer war sie die Fotografin, die einmal dieses eine Bild geschossen hatte. Dieses eine Foto. Perfekt, tiefgründig, ästhetisch. Die Latte lag hoch, und nun war sie nicht mehr in der Lage, die hohen Erwartungen zu erfüllen. Auch wenn es lediglich ihre eigenen Maßstäbe waren.
    Die Begleiterin wandte sich ab und strahlte zu Carolins Erstaunen, als sie Leif entdeckte.
    «Was machst du denn hier? Das ist ja eine Überraschung!» Es gab ein Küsschen auf jede Wange.
    Carolin beobachtete zum ersten Mal, dass sich ein Mensch über die Anwesenheit des Kollegen Minnesang freute. Sie erwartete so etwas wie eine plausible Erklärung für diese Reaktion, doch Leif und Ebba John ließen sie im Unklaren. Minnesang stammte aus Ostfriesland, diese zeitlose Blondine hier vielleicht auch, zudem schienen sie ein Alter zu haben, eventuell kannten sie sich also von früher. Doch sie erläuterten nichts, ließen Carolin außen vor, standen nur strahlend voreinander und zwinkerten sich noch ein paar Mal viel sagend zu. Dann räusperte sich Ebba John: «Es ist das erste Mal, dass wir Journalisten mit an Bord nehmen. Aber es ist auch das erste Mal, dass ein Kreuzfahrtschiff von diesen Ausmaßen eine deutsche Werft verlässt. Wir sind alle sehr stolz und aufgeregt.»
    «Und wie ist der Ablauf geplant?», fragte Carolin.
    «Wenn das Wetter sich hält, legen wir morgen früh gegen sechs Uhr ab. Ab fünf wird am Dollartsperrwerk das Wasser gestaut, das wir brauchen, um Leda und Ems befahren zu können. Wir sind ja die allerersten Kilometer auf der Leda unterwegs, bis wir dann südwestlich von Leer in die größere Ems einschiffen. Das ist alles, was die Tiefe angeht, sehr eng bemessen, wir brauchen jeden Zentimeter unter dem Kiel.»
    «Aber ich dachte, man hätte die Strecke vom Leeraner Hafen bis zur Ledamündung extra für die Überführung der Schiffe vertieft und umgestaltet.»
    «Das ist wahr. Zeitgleich mit dem Bau der
Poseidonna
gab es etliche Baumaßnahmen hier in Leer. Wir haben die kleine Hafenschleuse gegen ein modernes System ausgewechselt, welches uns nun gleichzeitig als Werfttor und Zugang für den Lieferverkehr dient. Die Kurve bei Leerort wurdeverbreitert, damit das Schiff wenden kann. Die alte Jann-Berghaus-Brücke ist durch die wesentlich breitere Schmidt-Katter-Brücke ersetzt worden, zusätzlich haben wir für die Lastenkräne in diesem Bereich die Straßenführung geändert und gepflasterte Wege bis ans Ufer gelegt. Nicht zu vergessen das Dollartsperrwerk kurz vor Emden. Tja, einige Stellen sind kaum wieder zu erkennen. Aber wir haben jetzt die Möglichkeit, Schiffe im Ausmaß der
Poseidonna
zu bauen und zur Nordsee zu bringen. Die erste Etappe bis zum Sperrwerk wollen wir bis zum späten Nachmittag schaffen, weil man den Fluss nicht länger als zwölf Stunden stauen sollte, sonst weichen die Deiche auf.»
    «Viel Organisation, so eine Schiffsüberführung, nicht wahr?», hakte Carolin nach.
    Ebba John lächelte. «Wir haben die besten Männer für diese Arbeit. Die schütteln diesen Job aus dem Handgelenk. Ach, übrigens werden wir uns alle noch vor der Abfahrt näher kennen lernen. Ich habe einen kleinen Empfang oben auf der Kommandobrücke vorbereitet. Unter anderem werden Kapitän Pasternak und Ludger Schmidt-Katter zugegen sein, eventuell auch der Vorstandsvorsitzende der amerikanischen Reederei, an die die
Poseidonna
in Eemshaven übergeben wird. Sinclair Bess, er ist ein wahres Paradebeispiel für den amerikanischen Traum – vom Ghettoboy zum Großreeder.» Ebba John geriet ins Schwärmen. Sie betonte mit jeder Geste, mit jedem Wort, dass sie eine wichtige Rolle hier an Bord spielte. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm mit feinen weißen Nadelstreifen, darunter eine weiße Bluse, am schlanken Hals eine dezente Silberkette, im Gesicht nur wenig Make-up. Typ Chefstewardess sozusagen.
    Carolin ahnte, dass sie neben dieser scheinbar vollendeten Person eine
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