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Halbmast

Halbmast

Titel: Halbmast
Autoren: Sandra Lüpkes
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doch viel zu oft waren Rückschläge gefolgt. Pieter hatte versucht, ihnen weiterhin Mut zuzusprechen und das Durchhaltevermögen zu stärken. Sein Optimismus hatte viele von ihnenangesteckt. Trotzdem: Die Gruppe war in den letzten Monaten kleiner geworden. Und nun war es fast vorbei. Dieser Plan sollte es endlich allen zeigen. Zu viele wehrten sich noch, die Wahrheit und die Bedrohung zu erkennen. Aber in wenigen Tagen würde vielen tausend Menschen die Augen geöffnet werden. Doch bis dahin mussten er und seine Mitstreiter jeglichen Kontakt untereinander abgebrochen haben, alles andere wäre zu gefährlich.
    «Wir wünschen dir Glück», sagte die eine mit den langen Haaren. Er nahm sie fest in den Arm, doch als sie ihn küssen wollte, wandte er das Gesicht ab und ließ sie los.
    «Es wird ein Ende haben!», sagte er knapp und hob zum Abschied kurz den Arm.

Carolin
    Erst gestern hatte Carolin den Seesack vom Dachboden geholt. Am Boden war eine Naht gerissen, doch die Stelle hatte sich mit einem handtellergroßen Stück Jeansstoff flicken lassen. Carolin war rekordverdächtig schnell im Sachenpacken. Vielleicht lag es daran, dass sie in ihrem Job mehr unterwegs war als zu Hause in ihrer Hamburger WG. In ihren Koffern fand sie mehr Platz als im schmalen Sperrholzschrank ihres Zimmers. Es war schon einmal vorgekommen, dass sie eine zwischenzeitliche Mitbewohnerin der Fünf-Zimmer-Altbauwohnung erst bei deren Auszugsparty richtig kennen gelernt hatte. Damals war sie für eine Bildreportage des Nachrichtenmagazins
Objektiv
mehr als drei Monate in der Ukraine unterwegs gewesen, um mit ihrer Kamera Hunger und Wodka und Waisenhäuser abzulichten.Anschließend hatte es diese Flüchtlingslager im Irak gegeben, dann Waldbrände in Kanada. In dieser Zeit hatte Carolin das Kofferpacken verinnerlicht.
    Zwei unempfindliche Hosen mit möglichst vielen Taschen und zwei weiße Hemden. Carolin trug eigentlich immer weite weiße Hemden. Nur für alle Fälle ein knitterfreies schwarzes Kleid, dazu die passenden Schuhe. Unterwäsche und Socken, ein T-Shirt zum Schlafen, Kulturbeutel und das meiste der Fotoausrüstung passten zwar problemlos hinein, doch der Seesack wog nun sicher mehr als zehn Kilo.
    Ein gewöhnlicher Rucksack wäre vielleicht praktischer gewesen, ein Rollkoffer mit Sicherheit komfortabler, aber Carolin hatte sich, wenn sie an den anstehenden Auftrag dachte, stets mit dem Marinesack ihres Vaters über der Schulter auf einem schmalen Steg an Bord gehen sehen. So wie Elvis Presley damals, als er in Bremerhaven seinen Militärdienst angetreten hatte.
    Natürlich ist es immer anders, als man es sich im Voraus ausmalt.
    Es gab diesen schmalen Steg gar nicht. Stattdessen lief man eine asphaltierte Brücke entlang und befand sich auf einmal auf dem Schiff, ohne dass man es gemerkt hätte. Kein Schwanken oder kurzes Tiefersacken beim ersten Schritt an Bord. Die
Poseidonna
schien Carolins Ankunft zu ignorieren. Genau wie all die gestresst aussehenden Menschen in Blaumännern, mit Helmen auf den Köpfen und ihren Funkgeräten in den Händen.
    Nur Leif Minnesang stand ruhig neben seinem stabilen, chromfarbenen Samsonite und hielt sich eine Hand über die Augen, als müsse er ihre Ankunft mühsam vor gleißendem Sonnenlicht ausmachen. Dabei war hier im Inneren des Schiffes beinahe mehr Licht als draußen im grauen Aprilwetter der ostfriesischen Stadt Leer.
    Baustrahler und Neonröhren schienen grell gegen die Wände. Nachdem sie durch eine schwere Stahltür getreten waren, empfing sie angenehmeres Halogenlicht.
    Leif rollte nun den Koffer hinter sich her und bewegte sich durch den langen Korridor, als sei er hier zu Hause. Er hatte, wie er ihr erzählte, zwei Tage lang über den Plänen gebrütet und sich überlegt, was er sich alles anschauen musste und welche Winkel er ausleuchten wollte. Nun kannte er sich auf der
Poseidonna
aus, während es Carolin vor den Fluren grauste, die ohne Fenster waren und alle gleich auszusehen schienen. Die Wegweiser waren noch nicht montiert worden, einige heraushängende Kabel verrieten jedoch, dass in ein paar Wochen an jeder Ecke gut beleuchtet die Richtung ausgewiesen sein würde. Aber jetzt gab es nur links und rechts und Tür an Tür, zum Glück schon mit Kabinennummern versehen, und zwischendurch gläserne Zwischentüren, die wahrscheinlich als Brand-, Lärm- oder Überflutungsschutz dienten.
    Leif lief vor ihr, stieß die nächste Tür auf, aber statt sie Carolin aufzuhalten, ging er
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