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Halbmast

Halbmast

Titel: Halbmast
Autoren: Sandra Lüpkes
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Sie konnte seinem Schritt nicht ganz folgen. Der Seesack war schwer und zog ihr die Schulter nach unten. Ständig stieß Carolin damit gegen Kanten und Ecken. Manchmal konnte sie Leif nur noch gerade eben um eine Ecke verschwinden sehen. Hätte sie ihn verloren, dann wäre sie wahrscheinlich auf der Stelle stehen geblieben und hätte sich nicht gerührt, bis er ihr Fehlen bemerkt und sie gesucht hätte.
    Sie war keineswegs dumm. Sie war nur mit einer eklatanten Störung des Orientierungssinnes ausgestattet. Unter Fotografen kam das öfter vor. Bildkünstler sehen die Welt in einem Höhe-mal-Breite-Format. Sie fokussieren auf die Umwelt, aber wenn sie ohne Kamera vor dem Auge um sich blicken, fehlt ihnen der Rahmen.
    Endlich fanden sie sich vor einer Treppe wieder. Nun hatte selbst Carolin eine Vorstellung, wo sie sich befanden. Dies war eine Zwischentreppe zu den Kabinen. Nicht das gewaltige Atrium, von dem sie gehört hatte, dass die gläsernen Aufzüge und frei schwebenden Marmortreppen einem den Atem verschlugen. Aber schon diese Zwischentreppe im Kabinenbereich wirkte prachtvoll, denn sie war so breit, dass problemlos zehn Männer nebeneinander die Stufen hätten hinaufsteigen können. Sie waren nun irgendwo im Herzen des riesigen Schiffes, mit dem sie morgen in aller Frühe auf eine kurze, aber eindrucksvolle Reise gehen würden. Ganz unten, also noch fünf Etagen unter ihnen, befanden sich die preiswertesten Kabinen und ein großer Teil der Schiffstechnik. Die Aufzüge links und rechts schienen noch nicht in Betrieb zu sein. Das Ende der Treppe war mit einer Tür versehen, die sich nur mit passender Chipkarte öffnen ließ. Wenn man die richtigen Zugangsdaten hatte, konnte man von hier sogar direkt zur Kapitänsbrücke gelangen. Carolinwar erleichtert. Sie hatte einen Anhaltspunkt und würde sich hier vielleicht doch nicht dauernd verlaufen.
    Hier lag noch kein Teppich, aber eine Rolle dunkelblauer Meterware stand bereits neben der weiß marmorierten Säule. Zwei Arbeiter klebten honigfarbenen Leim auf die Stufen. Das Geländer, das aus etwas protzigem Goldmessing bestand und wie eine blonde Locke geschwungen war, wurde von einer Asiatin abgewischt. Ein Radio spielte «Biscaya» – James Last-typische Teppichverlegermusik. «Moin», sagten die Raumausstatter, ohne aufzublicken.
    Auf der obersten Treppenstufe stand eine schöne Frau. Das Alter war schwer zu schätzen. Sie konnte nicht mehr ganz jung sein. Auf den ersten Blick stand fest, dass sie sich gut gehalten hatte. Geschwungene Haare in Goldblond und schlanke, weiße Beine. Sie stand dort so selbstbewusst, als wäre dies schon immer ihr Platz gewesen und man hätte das ganze Schiff um sie herum gebaut. Die
Poseidonna
in Person. «Da sind Sie ja schon!» Sie kam ihnen nicht entgegen, sondern wartete, bis Leif und Carolin samt Gepäck die Stufen zu ihr hinaufkamen. Dann reichte sie Carolin die kühle, feingliedrige Hand.
    «Ich bin Ebba John.» Sie lächelte freundlich. «Mein Zuständigkeitsbereich ist die Gesamtkoordination der mitfahrenden Personen. Ich heiße Sie herzlich willkommen und werde Sie bei Ihrem Besuch durch das Schiff begleiten. Eigentlich hatte ich Sie von der Gangway abholen wollen, aber Sie waren wohl überpünktlich.»
    «Das stimmt. Ich bin Carolin Spinnaker. Die Fotografin.» Carolin betrachtete aufmerksam das makellose Gesicht ihr gegenüber. Ebba John hatte reife, aber glatte Haut, ein wenig gebräunt, ohne nach Solarium auszusehen, dazu dunkelbraune Augen und volle, vielleicht ein wenig zu volle Lippen. Carolin konnte sich nicht verkneifen, bei diesemGesicht an die Ente in einer Walt Disney-Produktion zu denken: Ebba John lächelte ebenso niedlich und breit.
    Die Redaktion hatte nicht erwähnt, dass man ihnen eine Begleitung zugeteilt hatte. Carolin wusste auch nicht, ob ihr diese Idee gefiel. Irgendwie machte es klar, dass Leif und sie nicht das Schiff in Beschlag nehmen konnten, wie es ihnen passte. Sie würden einen Schatten haben und eventuell sogar die Motive zugeteilt bekommen. Fotografieren Sie dieses, beschreiben Sie jenes. In New York musste sie einmal so arbeiten, am Ground Zero, als Sicherheitsbeamte ständig an ihrer Seite gestanden hatten. Damals leuchtete ihr eine solche Kontrolle ein. Aber hier auf der
Poseidonna
erschien es eindeutig fehl am Platz und übertrieben. Carolin wusste, dass sie unter diesen Umständen miserable Fotos machen würde. Und sie konnte es sich nicht leisten, miserable Fotos zu machen.
    Die
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