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Hahn im Korb.

Hahn im Korb.

Titel: Hahn im Korb.
Autoren: Andrea Camilleri
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richtete, die schnellen Schrittes näher kam, beobachtete er eine Weile die Witwe Tripepi, die sich abmühte, zwei Körbe mit geschnittenem Brot auf einen Hocker zu plazieren.
    »Danke«, sagte er laut zu ihr, ohne darauf zu achten, ob sie ihn überhaupt hörte, »danke für alles, was du für mich tust.« Mit den Augen folgte er den ersten Brotscheiben, die die Witwe in die Menschenmenge warf, sah die erhobenen Hände, die offenen Münder, die ihr dankten. Der Heilige hatte genau unter seinem Fenster haltgemacht; aus dem Nachbartor trat in diesem Augenblick Don Rosario Mendolìa, der mit einem Bündel Zehntausendlirescheine in der erhobenen Rechten wedelte. Nach und nach wurde ihm bewußt, daß auch er in der rechten Hand, die in der Jackentasche steckte, so etwas wie ein rechteckiges Stück Pappe hielt. Er zog es heraus und betrachtete es eingehend. Es war eine Postkarte, auf der ein kasernenähnliches Gebäude zu sehen war, ein Fenster im zweiten Stock war mit Tinte angekreuzt. Er wendete die Karte. Es gab keine Spur von einer Briefmarke, keine Adresse, sie mußte in einem Kuvert verschickt worden sein: »Denk jeden Abend an mich, so wie Abend für Abend meine Gedanken an dich dieses Zimmer verlassen«, stand da und sonst nichts, nicht einmal eine Unterschrift. Benommen drehte er sie erneut um. Gewiß gehörte die Karte nicht ihm, aber wie war sie in seine Tasche gekommen? Eine Sekunde später fiel es ihm ein. Genau vor fünf Tagen, als er zur Hochzeit gehen mußte, hatte er, bereits im Festanzug, beschlossen, zuvor einen Abstecher auf sein Land zu machen. Auf dem Weg über den Weinberg hatte er gemerkt, daß in der Nacht irgendein Hurenbock gekommen war und sich an den Trauben vergriffen hatte: Zwei oder drei Weinstöcke waren zerschlagen und die Tauben völlig zermatscht. Als wären die Hunnen eingefallen, ohne erkennbaren Grund. Während er auf jene Schweinehunde fluchte, entdeckte er unter einem abgebrochenen Stock ein Stück Karton: Das war die Postkarte, die er jetzt in der Hand hielt und die offensichtlich einer von denjenigen verloren hatte, die ihm diesen netten Dienst erwiesen hatten. Er hatte sie in die Tasche der Anzugjacke gesteckt und dort vergessen. Nein, das stimmte nicht. Er erinnerte sich, daß er sie während der Hochzeitsfeier hervorgeholt hatte, denn für einen Augenblick hatte er die Absicht gehabt, sie Masino zu zeigen. Er hatte sie auf den kleinen Tisch gelegt, an dem er zusammen mit Freunden saß, doch da er Masino nirgendwo hatte entdecken können, hatte er sie schließlich wieder eingesteckt. Bei genauerem Betrachten kam ihm das Gebäude irgendwie bekannt vor. Er kniff die Augen zusammen, um besser nachdenken zu können. Und plötzlich tauchte in dem blendenden Licht, das in seinem Gehirn explodierte, die Wand des Wohnzimmers von Doktor Scimeni auf, und an ihr der Kalender und auf dem Kalender haargenau das gleiche Gebäude, und darunter die Inschrift: Orthopädisches Institut Santa Rita. Er taumelte, klammerte sich am Geländer fest, um nicht hinzufallen. Jetzt wußte er, daß die Leute in jener Nacht nicht um Trauben zu klauen, sondern wegen etwas anderem auf sein Land gekommen waren – wegen etwas, das er sich gar nicht vorstellen wollte; wie hieß dieser Schäfer noch?, ach ja, Gaetano Mirabile; ihm war plötzlich klar, daß die dunklen Flecken auf den Weinblättern und auf dem Erdboden in der Nähe der zerstörten Weinstöcke nicht von Trauben stammten, wie er bereitwillig hatte glauben wollen, sondern von Blut, von frischem Blut, das dort vergossen worden war. Es war unmöglich, noch auf die Gnade eines Irrtums zu hoffen. Und er hatte das Beweisstück für einen Mord auf seinem Grundstück auf der Hochzeitsfeier vor allen herumgezeigt. Wer weiß, was die anderen geglaubt hatten – daß er den Schlaumeier spielen und Profit daraus ziehen wollte, vielleicht sogar den Mut haben würde, sie zu bedrohen. So hatten sie keine Zeit verloren, um ihm eine Warnung, ein Zeichen zukommen zu lassen. Der Festlärm, der, während er die Postkarte anstarrte, zu einem bloßen Summen abgeebbt war, steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen. Er wußte nicht, ob auch er wie die Leute auf der Straße in diesem Augenblick schrie, ob all diese erhobenen Hände nicht mehr das Brot erhaschen, sondern seinen Leib packen wollten, der wie ein Stein in die Tiefe fiel.
      »Ticktack ist mit dem Millecento von Giovannino abgefahren. Im Morgengrauen ist er von Vitos Hühnerstall zurückgekommen und sah
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