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Hacken

Hacken

Titel: Hacken
Autoren: Christoph Braun
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Echos und Echos, bis die Frage keine Bedeutung mehr besitzt. Schon Perry selbst kam ja so weit: In seiner schwarzen Arche, den Black Ark Studios, verschaltete er in den 1970er-Jahren ein paar Rudimente vom Schlagzeug mit Erinnerungen an den mächtigen Basston. Durch derlei Mischerei entstanden bizarre Klangwelten, auch aus der Hand des Dub-Erfinders King Tubby, der nicht vergessen werden darf, niemals. Von dieser Musik hebt so vieles an: die Reggae-Experimente weißer Punk und New Wave Kids, Blondie und The Clash; oder der Post Rock von Tortoise. Dann ab den 1990ern Jungle und Drum’n’Bass und Dubstep. Musik mit Größe.
     
    In Berlin habe ich Musik regelmäßig in Bars und Clubs gehört. Im Gegensatz dazu strömt sie in Evessen vor allem durch mein Zimmer. Wenn ich alleine bin. Es geht also das verloren, was sich mit der Musik zwischen den Menschen ausbreitet. Der Körper mitsamt seiner somatischen Systeme wird auf der Tanzfläche direkt angesprochen und mitgenommen. Das Bild vom Reisen: füllt Regale voller Techno-Produktionen, all die voyages und travellings. Das Geschehen des Menschenrituals wird hier in der Dachkammer von Evessen angemessen ersetzt. Die Blickachsen über die Felder hinweg und über die Hügel, Andeutungen von Städten, Andeutungen von Gebirgen. Strömt Musik in diese Weite aus, über die Boxen durch die Dachluke, schon findet sie ihre Wege durch die Feldmarken, und die Dellen und Hänge verformen den Sound. Das verschafft der zumeist von urbaner Dichte gekennzeichneten Musik einen neuen Charakter. Den Charakter dieses Ortes. Eine andere Qualität entsteht, keine bessere, keine schlechtere als in der Stadt. So also hört sich mein Eingriff an, mein Hack ins eigene Leben. Wie ich hier Musik höre, das zählt zu den Erfahrungen, die sich nicht vorhersagen ließen.

ROSARA UND GLORIA
    Alle Aktionen kulminieren in der Zeit, wenn geerntet wird. Das Hämmern, Fahren, Trocknen, Prüfen, Abschreiten, Mähen, Beladen, Einlagern des Übergangs, wenn der Sommer laut Kalender noch herrscht, doch schon alles im Zeichen des Herbstes steht.
     
    Die Kartoffelernte geht Mitte September zu Ende. Bei Norbert habe ich die Knollen mit einer Grabegabel ausgehoben, auf mehreren Beeten an der Ostseite des Gewächshauses. Schwer ist der Boden von den ergiebigen Niederschlägen in den vergangenen Augusttagen. Ein Witz, denn eigentlich war es zu trocken: Von drei Beeten für die Kartoffeln hat der Kartoffelkäfer nur dieses eine verschont. Ist es zu trocken, dann bricht die Widerstandkraft der Pflanzen. Der Käfer kann einfallen.
     
    Sonne oben, mein Kopf in der Mitte, Rosara und Gloria noch ganz unten, und die Erde ist schwer. Der Regenmesser des Gartengeräteherstellers Wolf zeigt vier Millimeter an, in der Nacht zu Boden gefallen. Vielleicht lässt sich die Erde ja doch bewegen. Die Kartoffeln müssen raus, denn das schöne, das einfache Prinzip der Permakultur, nach deren Anbauprinzipien sich sowohl der Lindenhof als auch Athene Bio richten, bedeutet: serielles Anbauen. Was die soeben geernteten Pflanzen an Stoffen im Boden hinterlassen, soll den nachfolgenden Pflanzensorten besten Boden bieten. Chemischer Dünger wird dadurch überflüssig.
     
    Eine rote und eine gelbe Kartoffel gehören zu den frühen Sorten und gehen schon seit Juli in den Verkauf: Rosara in ihrer ovalen Form und dem violett nachleuchtenden Rot kocht überwiegend fest und entfaltet einen Hauch von Nuss. Die gelbe Gloria hingegen ist ein Kind ihrer Zeit: Gezüchtet in Westdeutschland 1972, diesem unglaublich melancholisch stimmenden Jahr, gewährt sie Soulfood, indem sie in langsamen Wellen den Geschmack von Erde verströmt. Als wäre sie eine Neue Linke, die sich angesichts der Verhaftung Ulrike Meinhofs einer Prä-Grünen-Gruppe anschließt.
     
    Jetzt sind sie also raus, und das gilt auch für die Kartoffeln vom Lindenhof. Während bei Athene Bio die Schönheit des Erntens in der körperlichen Verausgabung lag, war es bei der Lindenhof-Ernte der Gedanke, etwas mit vielen Leuten gemeinsam zu machen. Mit Buba, mit Dagmar, mit Alex und Alexander ließen wir uns auf dem Kartoffelroder hin- und herwiegen wie auf einem Schiff. Wir selbst: Monster mit Tentakeln, acht-, nein zehn-, manchmal vierzehnarmig ruckelt das Spukschiff durch die Dettumer Senke, den Apelnstedter Acker, die Felder von Riddagshausen. Kartoffeln sind überall.
     
    Nach dem Einlagern beginnt auf dem Lindenhof die Zeit des Kartoffelsortierens: Auf dem Roder haben wir alle nur
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