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Habiru

Titel: Habiru
Autoren: Dirk Gerhardt
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schienen zu beten.
    Nach dem stillen Gebet begannen alle mit dem Essen und Schena flüsterte ihr zu: »Wir danken immer der Großen Mutter für unser Essen, es ist nicht selbstverständlich, dass wir immer genug zu essen haben, es gab auch schon andere Zeiten.«
    Schon wieder war Sarah mit etwas konfrontiert, was sie nicht ohne weiteres einordnen konnte. Hatte Schena wirklich Große Mutter gesagt?
    Nun war sie aber viel zu hungrig, um sich dazu weiter Gedanken zu machen. Die anderen fingen an zu essen. Sie war Schena dankbar, hier nicht gleich einen Fehlstart hingelegt zu haben, in dem sie schon mit dem essen angefangen hätte, ohne auf die anderen zu warten. Ihr Respekt vor Schena wuchs. Sie begann die vielen leckeren Speisen zu probieren, die auf ihrem Teller lagen. Sie aß von dem Brot, es war sehr süß, schmeckte aber gut.
    »Wir wollen mehr von dir hören, Fremde. Erzähl uns doch beim Essen von woher du kommst und was du hier machst!«
    Zuerst wusste sie nicht, was sie erzählen sollte, zu sehr war sie von den gewaltigen Sinneseindrücken gefangen genommen. Sie bewegte sich ja auf absolut fremdem Terrain, und trotzdem erschien ihr vieles eigenartig vertraut. Wo sollte sie anfangen? Sie wusste ja selbst nicht, was das alles zu bedeuten hatte. An einen Traum glaubte sie nicht mehr, zu real waren alle Eindrücke. Da diese Menschen anscheinend keine moderne Welt kannten, war sie vorsichtig mit ihrer Wortwahl. Aber selbst das reichte nicht aus, wie sie schnell bemerkte. »Ich weiß nicht, wie ich hierher gekommen bin. Ich wohne eigentlich am Stadtrand von Hamburg mit meinen Eltern in einem Haus. Wir sind nur zu dritt, der Rest der Familie wohnt weit verstreut.«
    Die Gesichter, in die sie sah, schauten ungläubig aus.
    »Wie, ihr wohnt nicht wie wir in einer Sippe?« fragte Ugur, der gelocktes, schwarzes Haar und eine gerade, formschöne Nase hatte und den sie ungefähr so alt wie ihren Vater schätzte.
    »Nein, früher hat es so etwas bei uns auch noch gegeben, als Großfamilie mit drei Generationen unter einem Dach, aber in den letzten Jahrzehnten nicht mehr so sehr. Bei uns leben Mann und Frau zusammen, sozusagen aus verschiedener Sippe, und gründen dann eine neue, wenn sie sich lieben.« Irgendetwas kam ihr nun merkwürdig vor, auch Schena blickte überrascht angesichts dieser normalen Beschreibung einer Familie. Da ging Sarah ein Licht auf. In dieser Sippe waren irgendwie die Verwandtschaftsverhältnisse anders. Es gab ja gar keine Partner der Männer oder Frauen, und die Männer hatten keine Kinder hier. Viele Gedanken schossen Sarah durch den Kopf.
    »Ihr kennt keine Familie so wie wir? Wo leben denn eure Partner? Haben Ugur und Arnek keine Kinder? Wurde Nerestide von ihrem Freund verlassen?« »Also,« fing Inanna an, »Bei uns leben Mann und Frau aus verschiedener Sippe nicht zusammen. Ugur besucht meines Wissens häufiger die fesche Iona aus der Sippe der Bashir vom anderen Ende des Dorfes, um das Lager zu teilen.« Sie lächelte und blickte Ugur schelmisch an. Ugur reagierte gelassen auf die Anspielung seiner Mutter.
    »Und Ugur hat sich wie jeder Mann um seine eigene Sippe zu kümmern. Das Feld muss bestellt werden, im Fluss gefischt, der Stall gemistet, das Brot muss gebacken werden. Wir sorgen alle gemeinsam für unser Leben, und insbesondere für unseren Nachwuchs. Arnek und Ugur sind ihren Nichten und Neffen immer gute Väter gewesen. Sie werden auch Nerestides Kind gute Väter sein.«
    Also waren die Brüder und Onkel die Väter, begriff Sarah. Richtige Väter, im biologischen Sinne, hatten wohl nur was mit der Zeugung zu tun - wie sagten sie? Das »Lager für die Nacht teilen«. Sie wurde leicht rot bei diesem unverhohlenen Hinweis auf Sex. Gerade erst hatte sie im Biologiesexualkundeunterricht das Thema durchgenommen, dass ihr schon seit Jahren auf dem Schulhof begegnete und ihre Eltern ihr vor Scham nicht erklären konnten oder wollten. Dabei wusste sie längst vieles davon. Tolle Eltern, dachte sie sich. Haben ihrer Tochter gewisse Peinlichkeiten bereitet, weil sie nicht fähig waren, offenherzig über das angeblich Natürlichste der Welt zu sprechen. Ihr fielen noch mehr Fragen ein:
    »Und dein Mann, Inanna? Was ist mit ihm?«
    Inanna gluckste: »Oho, da gab es mehrere. Als ich noch jung war, teilte ich mein Lager mit vielen Männern unseres Dorfes. Aber Enri war mir von allen der Liebste. Er war ebenfalls vom Bashir-Clan. In diesem Dorf sind wir mehr oder weniger alle verschwägert. Und
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