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Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)

Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)

Titel: Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
Autoren: Heinrich Böll
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Leni und Marja über diese Tafeln gegeben, die Marja als unsittlich bezeichnete, aber Leni
     ist hart und hartnäckig geblieben.
     
    Da irgendwann ohnehin Lenis Beziehung zur Metaphysik angesprochen werden muß, sei hier gleich am Anfang erklärt: die Metaphysik
     macht Leni nicht die geringsten Schwierigkeiten. Sie steht mit der Jungfrau Maria auf vertrautem Fuß, empfängt sie auf dem
     Fernsehschirm fast täglich, jedesmal wieder überrascht, daß auch die Jungfrau eine Blondine ist, gar nicht mehr so jung, wie
     man sie gern hätte; diese Begegnungen finden unter Stillschweigen statt, meistens spät, wenn alle Nachbarn schlafen und die
     üblichen Fernsehprogramme – auch das holländische – ihr Sendeschlußzeichen gesetzt haben. Leni und die Jungfrau Maria lächeln
     sich einfach an. Nicht mehr, nicht weniger. Leni würde keineswegs erstaunt oder gar erschrocken sein, wenn ihr eines Tages
     der Sohn der Jungfrau Maria auf dem Fernsehschirm nach Sendeschluß vorgestellt würde. Ob sie gar darauf wartet, ist dem Berichterstatter
     unbekannt. Überraschen würde es ihn nach allem, was er inzwischen erfahren hat, nicht. Leni kennt zwei Gebete, die sie hin
     und wieder murmelt: das Vaterunser und das Ave-Maria. Außerdem noch ein paar Fetzen Rosenkranz. Sie hat kein Gebetbuch, geht
     nicht zur Kirche, glaubt daran, daß es im Weltraum »beseelte Wesen« (Leni) gibt.
     
    Bevor mehr oder weniger lückenhaft über Lenis Bildungsweg berichtet wird, noch ein Blick in ihren Bücherschrank |22| ; die Hauptmasse der dort glanzlos verstaubenden Werke besteht aus einer Bibliothek, die ihr Vater einmal pauschal gekauft
     hat. Sie entspricht den Originalölgemälden, ist bisher der Pfändung entgangen; es gibt da auch einige komplette Jahrgänge
     einer kirchlich (katholisch) orientierten, alten illustrierten Monatszeitschrift, die Leni hin und wieder durchblättert; diese
     Zeitschrift – eine antiquarische Rarität – verdankt ihr Überleben lediglich der Unwissenheit des Gerichtsvollziehers, der
     sich durch ihre Unansehnlichkeit täuschen läßt. Nicht der Aufmerksamkeit des Gerichtsvollziehers entgangen sind leider die
     Jahrgänge 1916–1940 der Zeitschrift »Hochland«, sowie die Gedichte von William Butler Yeats, die aus dem Besitz von Lenis
     Mutter stammten. Aufmerksamere Beobachter wie Marja van Doorn, die sich staubwischenderweise lange damit beschäftigen mußte,
     oder Lotte Hoyser, die lange Zeit während des Krieges Lenis zweithöchste Vertraute war, entdecken in diesem Jugendstilbücherschrank
     allerdings sieben bis acht überraschende Titel: Gedichte von Brecht, Hölderlin und Trakl, zwei Prosabände von Kafka und Kleist,
     zwei Bände von Tolstoi (»Auferstehung« und »Anna Karenina«) – und alle diese sieben oder acht Bände sind auf die honorigste,
     für die Autoren schmeichelhafteste Weise zerlesen, so sehr, daß sie mit den verschiedensten Klebemitteln und Klebestreifen
     immer wieder und wenig fachkundig zusammengeflickt worden sind, teilweise einfach durch Gummiband lose zusammengehalten werden.
     Angebote, ihr Neuausgaben der Werke jener Autoren zu schenken (Weihnachten, Geburtstag, Namenstag etc.), lehnt Leni mit einer
     fast beleidigenden Entschiedenheit ab. Der Verf. erlaubt sich hier eine über seine Kompetenz hinausgehende Bemerkung: er ist
     fest davon überzeugt, daß Leni einige der Prosabände von Beckett ebenfalls dort stehen hätte, wären sie zu der Zeit, da Lenis
     literarischer |23| Ratgeber noch Einfluß auf sie hatte, schon erschienen oder jenem bekannt gewesen.
     
    Zu Lenis Leidenschaften gehören nun nicht nur die acht täglichen Zigaretten, eine intensive, wenn auch durch Mäßigung bestimmte,
     Eßlust, das Spielen zweier Klavierstücke von Schubert, das entzückte Betrachten der Abbildungen menschlicher Organe – Därme
     eingeschlossen; nicht nur die zärtlichen Gedanken, die sie ihrem zur Zeit inhaftierten Sohn Lev widmet. Sie tanzt auch gern,
     ist immer eine leidenschaftliche Tänzerin gewesen (was ihr einmal zum Verhängnis wurde, weil sie dadurch in den unauslöschlichen Besitz des unsympathischen Namens Pfeiffer geriet). Wo soll
     nun eine achtundvierzigjährige alleinstehende Frau, die von der Umwelt zur Vergasung freigegeben worden ist, tanzen gehen?
     Soll sie in die Lokale für jugendliche Tanzlustige gehen, wo sie gewiß als Sex-Oma mißverstanden, mißbraucht würde? Auch die
     Teilnahme an Pfarrveranstaltungen, auf denen getanzt wird, ist ihr verwehrt,
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