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Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)

Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)

Titel: Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
Autoren: Heinrich Böll
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zuschaute, denn er ist leidenschaftlich an Kinderspielen interessiert, hat über das Thema »Musik
     im Kinderspiel« promoviert), da er nicht unempfänglich für weibliche Reize ist, hat er gewiß Lenis gesamte Erscheinung im
     Laufe der Jahre aufmerksam verfolgt, gewiß hin und wieder anerkennend mit dem Kopf genickt, möglicherweise sogar begehrliche
     Gedanken gehegt, und doch muß gesagt werden, daß er Leni – vergleicht man sie mit allen Frauen, mit denen Schirtenstein bisher
     intim geworden ist – als »eine Spur zu vulgär« nicht ernsthaft erwogen hätte. Ahnte er, daß es Leni ist, die da nach recht
     hilflosen Übungsjahren gelernt hat, allerdings nur zwei Klavierstücke von Schubert meisterhaft zu beherrschen, und so, daß
     Schirtenstein nicht einmal durch jahrzehntelange Wiederholung gelangweilt wurde, vielleicht würde er sein Urteil über Leni
     ändern, er, vor dem sogar eine Monique Haas nicht nur zitterte, sogar Respekt hatte. Auf Schirtenstein, der unwillentlich
     später mit Leni auf eine nicht gerade telepathische, lediglich telesensuelle Art in erotische Beziehung treten wird, muß noch
     zurückgekommen werden. Es muß gerechterweise gesagt werden, daß Schirtenstein mit Leni auch durch dick gegangen wäre, nur:
     er bekam keine Chance. |17| Über Lenis Eltern viel, über Lenis inneres Leben wenig, über Lenis äußeres Leben fast alles wußte eine fünfundachtzigjährige
     Auskunftsperson zu berichten: der seit zwanzig Jahren pensionierte Hauptbuchhalter Otto Hoyser, der in einem komfortablen
     Altersheim lebt, das die Vorzüge eines Luxushotels mit denen eines Luxussanatoriums verbindet. Er besucht Leni fast regelmäßig
     oder wird von Leni besucht.
    Eine prägnante Zeugin ist seine Schwiegertochter Lotte Hoyser, geb. Berntgen; weniger zuverlässig deren Söhne Werner und Kurt,
     inzwischen fünfunddreißig bzw. dreißig Jahre alt. Lotte Hoyser ist so prägnant wie bitter, ihre Bitterkeit hat sich allerdings
     nie gegen Leni gewandt; Lotte ist siebenundfünfzig, Kriegerwitwe wie Leni, Büroangestellte.
    Lotte Hoyser, scharfzüngig, bezeichnet ihren Schwiegervater Otto (siehe oben) und ihren jüngsten Sohn Kurt, ohne jede Einschränkung
     und ohne Blutsbande zu berücksichtigen, als Gangster, denen sie fast die gesamte Schuld an Lenis derzeitiger Misere gibt;
     erst kürzlich hat sie »gewisse Dinge erfahren, die Leni zu sagen ich nicht übers Herz bringe, weil ich selbst sie mir noch
     nicht ganz zu Herzen gebracht habe. Es ist einfach nicht zu fassen.« Lotte bewohnt eine Zwei-Zimmer-Küche-Bad-Wohnung im Stadtzentrum,
     für die sie etwa ein Drittel ihres Einkommens als Miete bezahlt. Sie erwägt, in Lenis Wohnung zurückzuziehen, aus Sympathie,
     aber auch, wie sie (aus vorläufig mysteriösen Gründen) drohend hinzufügte, »um zu sehen, ob sie tatsächlich auch mich exmittieren
     würden. Ich fürchte: sie würden.« Lotte ist Angestellte einer Gewerkschaft »ohne Überzeugung« (wie sie ungefragt hinzufügte),
     »nur, weil ich ja nun mal am Fressen bleiben und leben möchte«.
    |18| Weitere Auskunftspersonen, nicht unbedingt die unwichtigsten, sind: der promovierte Slawist Dr. Scholsdorff, der aufgrund
     einer komplizierten Verstrickung oder Verflechtung in Lenis Lebenslauf geraten ist; die Verflechtung wird, mag sie auch noch
     so kompliziert sein, erklärt werden. Scholsdorff ist aufgrund sehr vielschichtiger Umstände, die ebenfalls an geeigneter Stelle
     erklärt werden, in den höheren Finanzdienst geraten; er will diese Karriere bald durch vorzeitige Pensionierung beenden.
    Ein weiterer promovierter Slawist, Dr. Henges, spielt eine untergeordnete Rolle; als Auskunftsperson ist er ohnehin fragwürdig,
     obwohl er sich seiner eigenen Fragwürdigkeit bewußt ist und jene sogar betont, ja fast genießt. Er bezeichnet sich selbst
     als »total verkommen«, eine Bezeichnung, die der Verf., gerade weil sie von Henges selbst stammt, nicht übernehmen möchte.
     Ohne darum gebeten worden zu sein, hat Henges zugegeben, im Dienste eines kürzlich ermordeten Diplomaten gräflicher Herkunft
     in der Sowjetunion bei der »Anwerbung« von Arbeitskräften für die deutsche Kriegsrüstungsindustrie »mein Russisch, mein herrliches
     Russisch verraten zu haben«. Henges lebt »unter nicht unerfreulichen finanziellen Umständen« (H. über H.) in der Nähe von
     Bonn auf dem Lande, wo er als Übersetzer für verschiedene ostpolitische Zeitschriften und Büros arbeitet.
     
    Es würde zu weit
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