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Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)

Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)

Titel: Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
Autoren: Heinrich Böll
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geäußert wird.
    Zu Lenis Lebensgewohnheiten müssen noch ein paar Einzelheiten geliefert werden; sie ißt gern, aber mäßig; ihre Hauptmahlzeit
     ist das Frühstück, zu dem sie unbedingt zwei knackfrische Brötchen, ein frisches, weichgekochtes Ei, ein wenig Butter, einen
     oder zwei Eßlöffel Marmelade (genauer gesagt: Pflaumenmus von der Sorte, die anderswo unter Powidl bekannt ist) braucht, starken
     Kaffee, den sie mit heißer Milch mischt, sehr wenig Zukker; an der Mahlzeit, die Mittagessen heißt, ist sie wenig |12| interessiert: Suppe und ein kleiner Nachtisch genügen ihr; abends dann ißt sie kalt, ein wenig Brot, zwei – drei Scheiben,
     ein wenig Salat, Wurst und Fleisch, wenn ihre Mittel es erlauben. Den größten Wert legt Leni auf die frischen Brötchen, die
     sie sich nicht bringen läßt, sondern eigenhändig aussucht, nicht, indem sie sie betastet, nur, indem sie deren Farbe begutachtet;
     nichts – an Speisen jedenfalls nichts – ist ihr so verhaßt wie laffe Brötchen. Der Brötchen wegen und weil das Frühstück ihr
     tägliches Feiertagsmahl ist, begibt sie sich sogar morgens unter Menschen, nimmt Beschimpfungen, mieses Gerede, Anpöbeleien
     in Kauf.
    Zum Punkt Rauchen ist zu sagen: Leni raucht seit ihrem siebzehnten Lebensjahr, normalerweise acht Zigaretten, keinesfalls
     mehr, meistens weniger; während des Krieges verzichtete sie vorübergehend aufs Rauchen, um jemandem, den sie liebte (nicht
     ihrem Mann!), die Zigaretten zuzustecken. Leni gehört zu den Menschen, die hin und wieder ein Gläschen Wein mögen, nie mehr
     als eine halbe Flasche trinken und je nach Wetterlage sich einen Schnaps, je nach Stimmungs- und Finanzlage einen Sherry genehmigen.
     Sonstige Mitteilungen: Leni hat den Führerschein seit 1939 (mit Sondergenehmigung erhalten, die näheren Umstände werden noch
     erklärt), aber schon seit 1943 kein Auto mehr zur Verfügung. Sie fuhr gern Auto, fast leidenschaftlich.
    Leni wohnt immer noch in dem Haus, in dem sie geboren ist. Das Stadtviertel ist aufgrund nicht zu eruierender Zufälle von
     Bomben verschont worden, jedenfalls ziemlich verschont worden; es wurde nur zu 35 % zerstört, war also vom Schicksal begünstigt. Kürzlich ist Leni etwas widerfahren, das
     sie sogar gesprächig gemacht hat, sie hat es bei nächster Gelegenheit ihrer besten Freundin, ihrer Hauptvertrauten, die auch
     die Hauptzeugin des Verf. ist, brühwarm erzählt, mit erregter Stimme: morgens, als sie |13| beim Brötchenholen die Straße überquerte, hat ihr rechter Fuß eine kleine Unebenheit auf dem Straßenpflaster wiedererkannt,
     die er – der rechte Fuß – vor vierzig Jahren, als Leni dort mit anderen Mädchen Hüpfen spielte, zum letztenmal erfaßt hatte;
     es handelt sich um eine winzige Bruchstelle an einem Basaltpflasterstein, der schon, als die Straße angelegt wurde, etwa im
     Jahre 1894, vom Pflasterer abgeschlagen worden sein muß. Lenis Fuß gab die Mitteilung sofort an ihren Hirnstamm weiter, jener
     vermittelte diesen Eindruck an sämtliche Sensibilitätsorgane und Gefühlszentren, und da Leni eine ungeheuer sinnliche Person
     ist, der sich alles, aber auch alles sofort ins Erotische umsetzt, erlebte sie vor Entzücken, Wehmut, Erinnerung, totaler
     Erregtheit jenen Vorgang, der – womit dort allerdings etwas anderes gemeint ist – in theologischen Lexika als »absolute Seinserfüllung«
     bezeichnet werden könnte; der von plumpen Erotologen und sexotheologischen Dogmatikern, auf eine peinliche Weise reduziert,
     mit Orgasmus bezeichnet wird.
     
    Bevor der Eindruck entsteht, Leni sei vereinsamt, müssen alle jene aufgezählt werden, die ihre Freunde sind, von denen die
     meisten mit ihr durch dünn, zwei mit ihr durch dick und dünn gegangen sind. Lenis Einsamkeit beruht lediglich auf ihrer Schweigsamkeit
     und Verschwiegenheit; man könnte sie sogar als wortkarg bezeichnen; tatsächlich »geht« sie nur sehr selten »aus sich heraus«,
     nicht einmal ihren ältesten Freundinnen Margret Schlömer, geb. Zeist, und Lotte Hoyser, geb. Berntgen, gegenüber, die noch
     zu Leni hielten, als es am allerdicksten kam. Margret ist so alt wie Leni, verwitwet wie Leni, doch könnte dieser Ausdruck
     Mißverständnisse hervorrufen. Margret hats ziemlich mit Männern getrieben, aus Gründen, die noch benannt werden, nie aus Berechnung,
     gelegentlich allerdings – wenn es ihr allzu dreckig ging – |14| gegen Honorar, und doch könnte man Margret am besten charakterisieren, wenn
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