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Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)

Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)

Titel: Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
Autoren: Heinrich Böll
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ersten Augenblick auf verfrühte Kahlköpfigkeit
     schließen lassen könnte, sich aber, da das Haar dicht, blond, lockig ist, als ein persönliches Merkmal von Boris K. erweist.
     Seine Augen sind dunkel und ziemlich groß, durch eine Nickelbrille der Roten Armee auf eine Weise gespiegelt, die als graphische
     Raffinesse mißverstanden werden könnte. Man sieht sofort, daß dieser Mensch, obwohl ernst und mager und mit überraschend hoher
     Stirn, jung war, als das Foto gemacht wurde. Er trägt Zivil, Hemd offen, Schillerkragen, keine Jacke, was auf sommerliche
     Temperaturen zur Zeit der Aufnahme schließen läßt.
    Das sechste Foto zeigt einen Lebenden, Lenis Sohn. Obwohl er zur Zeit der Aufnahme gleichaltrig mit E., H. und B. war, wirkt
     er doch wie der Jüngste; das mag darauf zurückzuführen sein, daß das Fotomaterial zur Zeit der Aufnahme besser war als in
     den Jahren 1939 und 1941; es läßt sich leider nicht verleugnen: der junge Lev lächelt nicht nur, er lacht auf diesem Foto
     aus dem Jahr 1965; keiner würde zögern, ihn als »fröhlichen Jungen« zu bezeichnen; die Ähnlichkeit zwischen ihm, Lenis Vater
     und seinem Vater Boris ist unverkennbar. Er hat »Gruyten-Haar« und »Barkel-Augen« (Lenis Mutter war eine geborene Barkel.
     Der Verf.), wodurch er eine zusätzliche Ähnlichkeit mit Erhard bekommt. Sein Lachen, seine Augen lassen ohne weiteres den
     Schluß zu, daß er zwei Eigenschaften seiner Mutter ganz gewiß nicht besitzt: er ist weder schweigsam noch verschwiegen.
    |29| Es muß hier noch ein Kleidungsstück erwähnt werden, an dem Leni hängt wie außerdem nur an den Fotos, den Abbildungen menschlicher
     Organe, dem Klavier und den frischen Brötchen: ihr Bademantel, den sie hartnäckig fälschlicherweise als Morgenrock bezeichnet.
     Es ist ein Gebilde aus »Frottee von Friedensqualität« (Lotte H.), ehemals, wie am Rücken und an den Kanten der Taschen erkennbar
     ist, weinrot, inzwischen – nach dreißig Jahren! – zur Farbe einer ziemlich dünnen Himbeersoße verblichen. Er ist an vielen
     Stellen mit orangefarbener Baumwolle gestopft, sachkundig, wie man feststellen muß. Leni trennt sich selten von diesem Kleidungsstück,
     das sie kaum noch auszieht, sie soll gesagt haben, sie möchte, »wenn es soweit ist, darin begraben werden« (Hans und Grete
     Helzen, die für alle Wohnungsinterna als Auskunftspersonen fungieren).
    Die gegenwärtige Belegung von Lenis Wohnung sollte vielleicht noch kurz erwähnt werden: zwei Zimmer hat sie an Hans und Grete
     Helzen vermietet; zwei an ein portugiesisches Ehepaar mit drei Kindern, die Familie Pinto, bestehend aus den Eltern Joaquim
     und Ana-Maria sowie deren Kindern Etelvina, Manuela und José; eins an drei türkische Arbeiter, die Kaya Tunç, Ali Kiliç und
     Mehmet Şahin heißen und nicht mehr ganz so jung sind.

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    Nun ist Leni natürlich nicht immer achtundvierzig Jahre alt gewesen, und es muß notwendigerweise zurückgeblickt werden.
    Auf Jugendfotos würde man Leni ohne weiteres als hübsches und frisches Mädchen bezeichnen; sogar in der Uniform einer Naziorganisation
     für Mädchen – als Dreizehn- |30| , Vierzehn-, Fünfzehnjährige – sieht Leni nett aus. Kein männlicher Betrachter wäre in seinem Urteil über ihre körperlichen
     Reize niedriger gegangen als »verdammt noch mal, die ist nicht übel«. Der menschliche Paarungsdrang geht ja von Liebe auf
     den ersten Blick über den spontanen Wunsch, einer Person des anderen oder eigenen Geschlechts, einfach mal, ohne auf Dauerbindung
     aus zu sein, beizuwohnen; er geht bis zur tiefsten, aufwühlenden Leidenschaft, die ruhelose Seelen und Körper schafft, alle
     seine Spielarten, die so gesetzlos wie ungesetzmäßig auftreten, jede von ihnen, von der oberflächlichsten bis zur tiefsten,
     hätte von Leni geweckt werden können und ist von ihr geweckt worden. Als sie siebzehn war, machte sie den entscheidenden Sprung
     von hübsch zu schön, der dunkeläugigen Blondinen leichter fällt als helläugigen. In diesem Stadium wäre kein Mann in seinem
     Urteil niedriger gegangen als »bemerkenswert«.
     
    Es müssen noch ein paar Bemerkungen zu Lenis Bildungsweg gemacht werden. Mit sechzehn trat sie ins Büro ihres Vaters ein,
     der den Sprung vom hübschen Mädchen zur Schönheit wohl bemerkte und sie, vor allem ihrer Wirkung auf Männer wegen (wir befinden
     uns im Jahr 1938), zu wichtigen geschäftlichen Besprechungen hinzuzog, an denen Leni mit Notizblock und Bleistift auf den
    
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