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Große Kinder

Große Kinder

Titel: Große Kinder
Autoren: Oggi Enderlein
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Menschen in unserer Kultur werden unnatürlich lang daran gehindert, erwachsen und selbständig zu werden: Real unterliegen junge Erwachsene in der Bundesrepublik bis zum 18.   Geburtstag der Schulpflicht, denn auch Auszubildende müssen in die Berufsschule gehen. Frauen und Männer können bis zum 27.   Geburtstag noch nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz betreut werden. Und viele Menschen in Deutschland sind schon Mitte 20 oder älter, wenn sie die ersten ernsthaften beruflichen Schritte tun und endlich »richtig« erwachsen sein können.
    Gleichzeitig scheint sich die Grenze zum Jugendalter aber auch nach unten verschoben zu haben, wenn man sieht, wie sich schon Elfjährige bewegen, kleiden und verhalten. Die »Verfrühung« von Jugend hängt wohl damit zusammen, dass große Kinder in unserer Gesellschaft für ihre alterstypischen Lebensbedürfnisse keinen Raum mehr haben und sich deshalb, so früh wie möglich, den Jugendlichen zuordnen. Denn Jugendliche bekommen bei uns viel Aufmerksamkeit. Es gibt ja immer mehr, immer jüngere und immer ältere Jugendliche. Und Kinder, vor allem
große Kinder
, scheint es immer weniger zu geben.
    Dennoch gibt es unbestreitbar auch heutzutage und in unserer Kultur diese Zeit der »großen Kindheit« zwischen Kleinkind- und Jugendalter. Und bei genauem Hinsehen   – wenn man die innere Entwicklung wahrnimmt   – erkennt man, dass Menschen mit 12, 13, 14   Jahren offenbar doch nicht so anders sind als früher oder in anderen Kulturkreisen. Über alle Zeiten und Kulturen hinweg gibt es allerdings gute Argumente, das Ende der Kindheit sowohl mit 12 als auch mit 13 oder mit 14   Jahren anzusetzen.
    Der Grund, weshalb dieses Buch gerade mit den Dreizehnjährigen endet, wird vielleicht verständlich, wenn man die Entwicklungsschritte zwischen 12 und 14   Jahren wieder mit der Situation von Kolumbus und seinen Leuten vergleicht:
    Voraussetzung für die Reise von Kolumbus war bekanntlich die Erkenntnis, dass die Erde rund ist. Das entspricht der Situation der Zwölfjährigen, die in ihrer geistigen Entwicklung zu einem neuen Denken fähig sind, das sie auf die nächste Entwicklungsstufe vorbereitet. Sie sind wie die Seeleute, die zwar noch auf dem Boden der »alten Heimat«   – der Kindheit   – stehen, die aber danach hungern, das Schiff zu besteigen, das in die »neue Welt«   – das Jugendalter   – aufbrechen wird.
    Dreizehnjährige haben das »Festland Kindheit« verlassen und befinden sich auf hoher See, irgendwo zwischen der alten und der noch unbekannten neuen Welt. Sie fühlen sich zwischen den Welten, befinden sich im Auf- und Umbruch, sind keine Kinder mehr und doch auch noch nicht so richtig Jugendliche.
    Bei den meisten Vierzehnjährigen gibt es diese Unsicherheit nicht mehr. Sie sind ohne jeden Zweifel in der neuen Welt   – bei den Jugendlichen   – gelandet. Aber von den »Profis«, den »Ureinwohnern« unter den Jugendlichen, den Fünfzehn- bis Sechzehnjährigen und Älteren, werden Vierzehnjährige oft noch als »unerfahren«, als am Rand stehende Neulinge angesehen. Und sie fühlen sich auch selbst meistens noch »neu«. Darin ähneln sie den Siebenjährigen, mit denen der zweite Teil dieses Buches begann.
    Damit beginnt wieder eine neue Reise durch eine größere, kompliziertere, anspruchsvollere Lebenswelt. Und die Schritte werden sich wiederholen: Am Anfang wird für eine kurze Zeit der oder die für viele Eltern erstaunlich in sich ruhende, verhaltene, aufschauende »Vierzehnjährige« stehen. Mit 15, 16   Jahren wird es wieder darum gehen, die Grenzen der neuen Welt auszuprobieren und mit aller Kraft und Maßlosigkeit gegen sie anzurennen. Hoffentlich erfahren die jugendlichen Grenzgänger und »Chaoten« ebenso wie mit 8, 9   Jahren, wo sie zu weit gehen, damit sie Halt finden und sich ab etwa 17   Jahren wieder beruhigt ihren Lebensthemen zuwenden können. Bis es ihnen wieder zu eng, zu langweilig werden wird und sie wieder zu neuen Ufern aufbrechen wollen, wie ihre Eltern und wie wir alle, als wir Anfang, Mitte 20 waren. Und hoffentlich können die jungen Erwachsenen dann auf die eigenständigen, lebendigen Lebenserfahrungen aufbauen, die sie im Alter zwischen 7 und 13   Jahren gesammelt haben, als sie gemeinsam mit ihren Freunden die für ihr Alter passende Lebenswelt des großen Kindes selbständig entdeckt, erobert und beherrscht haben.

Literatur
    Im Text zitierte Literatur
    Beauvoir, Simone de (1908   -   1986):
Memoiren einer
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