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Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 2 (German Edition)

Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 2 (German Edition)

Titel: Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 2 (German Edition)
Autoren: Bernd Frenz
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ich die Richtung verloren, längst war es mir egal, wohin ich ging. Ich wollte nur heraus aus diesem unheimlichen Forst, der mir fremder dünkte als selbst die verborgensten Winkel der Elfenwälder.
    Aber diese Haine, die aus der Ferne so klein gewirkt hatten, mussten sehr viel ausgedehnter sein, wenn man sich in ihrem Inneren befand. Ich lief und glaubte, einen geraden Weg zu halten. Doch der Wald nahm kein Ende, und der Nebel verschlang alle Wegmarken genau wie die Geräusche der Welt. Ich bereute meinen Ausflug. Was wollte ich eigentlich hier unter den Bäumen? Ich hatte mich bei den Menschen umsehen wollen; Wälder konnte ich auch zu Hause finden …
    Als ich ein Licht sah, hielt ich darauf zu. Meinem Gefühl nach ging es auf die Mittagsstunde zu, und das Strahlen, das vor mir so verlockend durchs Gestrüpp schimmerte, kündete von Sonnenglanz und passte gar nicht zu den kühlen Nebelfetzen, die sich an meine Kleidung klammerten. Ich stolperte voran, brach durch das Unterholz und taumelte ins Freie.
    Es war nicht der Rand des Waldes, nur eine große Lichtung. In der Mitte erstreckte sich silberfunkelnd ein See, der gewiss einhundert Elfenschritte durchmaß. Ringsum an den Ufern stand der Nebel so dicht wie ein Vorhang, hinter dem schattenhaft die dicksten Stämme gerade noch zu sehen waren, schwarz und dräuend beieinander wie Leuchmadans finstere Horden.
    Ich wandte mich fröstelnd ab und trat an das offene Wasser. Darüber schien die Sonne frei von einem wolkenlosen Himmel und sprenkelte die Oberfläche wie mit Diamantsplittern. Ich beugte mich hinunter, schöpfte von dem Nass und trank. Ich rieb mir die klamme Stirn ab, wusch den Angstschweiß oder den unreinen Nebel fort, der dort haftete.
    Plötzlich zuckte ich zurück, denn das Gesicht, das mir aus dem Wasser entgegenschaute, war nicht mein eigenes!
    Ich kam auf die Füße und tastete nach meinem Dolch. Zugleich schämte ich mich dafür, denn das Gesicht im Wasser hatte nichts Bedrohliches an sich. Es zeigte ein wunderschönes Mädchen mit einem blassen, schmalen Antlitz, umrahmt von dunklen Haaren. Sie lächelte mich an, und ich schluckte.
    Das Gesicht, das so frei im Wasser schwebte, hätte zu einer Maid meines Volkes gehören können; dann wieder erschien sie mir eher wie eine Menschenfrau, oder eine Elfe, aber sie war nichts von alldem. Sie war die Gestalt gewordene Anmut, eine Erscheinung wie eine Göttin.
    Ungeschickt sanken meine Hände an den Seiten herab, und ich murmelte: »Herrin!«
    Sie erhob sich aus dem See, und ihr Leib war lang und schlank und wie aus Wasser geformt, durchscheinend wie eine Statue aus Saphir. Beständig floss es an ihrer Gestalt herab, und die Bewegung verhüllte die Umrisse ihres Leibes wie ein dünner Schleier, oder besser: Es betonte sie eher, rundete sie ab.
    Alles an ihr war klar und durchschimmernd, außer dem Antlitz, das wie eine Maske über dem Wasserleib lag. Haar und Gesicht waren die einzigen greifbaren Farben an dieser Erscheinung – schwarz und weiß. Ihre Füße standen auf dem Spiegel des Sees und gruben kleine Wellentäler.
    »Willkommen, Volpar«, sagte sie. »Willkommen zurück.«
    »Woher kennst du meinen Namen?« Ich war über diesen Umstand fast noch mehr erschrocken als über die Erscheinung selbst.
    »Deine Familie lebte einst nicht fern von hier«, sagte sie mit glockenheller Stimme. »Wir waren sozusagen Nachbarn, ihr und ich, und ich kenne meine Nachbarn gut und vergesse sie nicht, nicht einmal über die Generationen hinweg.«
    »Hast du mich hierher geführt?«, fragte ich.
    Das Wassermädchen zuckte die Achseln. »Ich. Du selbst. Keiner von uns hätte allein diese Begegnung bewirken können. Es war dein Wunsch, die alte Heimat deines Volkes zu sehen, und manchmal vermag ich es, Wünsche zu erfüllen und die Wege in die gewünschte Richtung zu biegen.«
    »Aber warum?«, fragte ich, denn schon damals war ich klug genug, um zu wissen, dass ein jeder seine eigenen Gründe hat für das, was er tut – selbst Geister, die scheinbar Wünsche erfüllen.
    »Einst waren wir Nachbarn«, sagte die Wasserfrau. »Reicht das nicht als Grund für ein wenig Freundlichkeit? Junge Halblinge küssten sich an meinen Ufern, und manchmal, mitunter, kamen sie auch zu mir.
    Dann kamen die Menschen. Sie veränderten das Land und vertrieben all jene, für die es keinen Platz gab in ihrem leeren Herzen. Wir teilen dasselbe Schicksal, du und ich, Halbling. Ich dachte mir, es wäre gut, wenn wir uns hier noch einmal
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