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Grischa: Goldene Flammen

Grischa: Goldene Flammen

Titel: Grischa: Goldene Flammen
Autoren: Leigh Bardugo
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unfassbar weit entfernten Horizont vor uns aus. Ich kannte viele Landkarten. Ich wusste, dass irgendwo wieder Land begann, unzählige Seemeilen und Tagesreisen entfernt. Trotzdem hatte ich das schwindelerregende Gefühl, am Rand der Welt zu stehen. Der auflandige Wind brachte einen Geruch nach Salz und Feuchtigkeit mit sich und trug uns leise Möwenschreie zu.
    Â»Das Meer ist unendlich«, sagte ich schließlich.
    Maljen nickte. Dann drehte er sich lächelnd zu mir um. »Ein gutes Versteck.«
    Er schob eine Hand in mein Haar und zog eine der goldenen Nadeln aus den verschlungenen Strähnen. Ich spürte, wie eine Locke über meinen Nacken glitt.
    Â»Für Kleider«, sagte er und steckte die Nadel ein.
    Genja hatte diese goldenen Nadeln erst tags zuvor in mein Haar gesteckt. Ich würde weder Genja noch die anderen jemals wiedersehen, und ich spürte einen Stich im Herzen. Schwer zu sagen, ob sie eine echte Freundin gewesen war, aber ich würde sie vermissen.
    Maljen ließ mich zurück, versteckt in einem Gehölz am Straßenrand. Wir waren übereingekommen, dass es am ungefährlichsten war, wenn er sich allein nach Os Kerwo begab, aber es fiel mir nicht leicht, ihn gehen zu lassen. Er hatte mir geraten, mich auszuruhen, aber ich fand keinen Schlaf. Ich spürte den Nachhall der Macht in meinem Inneren, das Echo dessen, was ich auf der Schattenflur getan hatte. Unwillkürlich griff ich nach dem Reif an meinem Hals. So etwas hatte ich noch nie erlebt, und ein Teil von mir sehnte sich danach zurück.
    Und die Menschen, die du im Stich gelassen hast?, fragte eine Stimme in meinem Kopf, vor der ich verzweifelt die Ohren zu verschließen versuchte. Botschafter, Soldaten, Grischa. Ich hatte sie alle zum Tode verdammt, aber konnte ich sicher sein, dass auch der Dunkle sein Leben gelassen hatte? Hatten die Volkra ihn zerfetzt? Hatten sich die verlorenen Seelen des Tula-Tals endlich am Schwarzen Ketzer rächen können? Oder wollte er die Rechnung begleichen und war schon aufgebrochen, um mich jenseits der öden Weiten der Schattenflur zu verfolgen?
    Ich erschauderte und lief auf und ab, zuckte bei jedem Geräusch zusammen.
    Am späten Nachmittag war ich fest davon überzeugt, dass man Maljen verhaftet hatte. Als ich endlich Schritte hörte und seine vertraute Gestalt zwischen den Bäumen erblickte, schluchzte ich vor Erleichterung.
    Â»Gab es Schwierigkeiten?«, fragte ich mit bebender Stimme und versuchte meine Angst zu verbergen.
    Â»Nein«, sagte er. »Ich habe noch nie so viele Menschen auf einem Haufen gesehen wie in dieser Stadt. Niemand hat mich auch nur eines zweiten Blickes gewürdigt.«
    Er trug ein neues Hemd und einen schlecht sitzenden Mantel, und er hatte mir etwas zum Anziehen mitgebracht: ein sackartiges Kleid, früher rot, aber jetzt zu Orange verblasst, und einen groben, senfgelben Mantel. Er gab mir die Sachen und kehrte mir dann höflich den Rücken zu, damit ich mich umziehen konnte.
    Ich mühte mich mit den winzigen schwarzen Knöpfen der Kefta ab. Es schienen Tausende zu sein. Als die Seide endlich über meine Schultern glitt, hatte ich das Gefühl, als würde eine schwere Last von mir abfallen. Die kühle Frühlingsluft ließ meine Haut prickeln, und ich erlaubte mir zum ersten Mal die Hoffnung, dass wir wirklich frei waren. Aber dann verdrängte ich diesen Gedanken. Ich würde erst aufatmen können, wenn ich mit Bestimmtheit wusste, dass der Dunkle tot war.
    Ich schlüpfte in das Wollkleid und den gelben Mantel.
    Â»Hast du absichtlich die hässlichsten Kleider gekauft, die du finden konntest?«
    Maljen drehte sich zu mir um. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich habe die erstbesten Kleider gekauft«, sagte er. Dann verflog sein Grinsen. Er berührte sanft meine Wange, und als er wieder etwas sagte, klang er rau und leise. »Ich will dich nie wieder in Schwarz sehen.«
    Ich sah ihm in die Augen. »Nie wieder«, flüsterte ich.
    Er holte einen langen roten Schal aus seiner Manteltasche und wand ihn behutsam um meinen Hals, um Morozows Reif zu verbergen. »So«, sagte er und lächelte wieder. »Bestens!«
    Â»Und was tue ich, wenn der Sommer anbricht?«, fragte ich lachend.
    Â»Bis dahin bist du es hoffentlich los.«
    Â»Nein!«, erwiderte ich heftig und war selbst überrascht, wie sehr mich diese Vorstellung aufwühlte. Maljen zuckte verdutzt
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