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Grischa: Goldene Flammen

Grischa: Goldene Flammen

Titel: Grischa: Goldene Flammen
Autoren: Leigh Bardugo
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hörte ihn schreien. Da hatte ich plötzlich wieder den Hirsch vor Augen und er war so lebendig, dass mir kurz war, als stünde ich auf der verschneiten Lichtung, und ihr Bild überlagerte die triste Realität der Schattenflur. Ich roch den Tannenduft, spürte die kühle Luft auf den Wangen. Ich erinnerte mich an die schwarzen, schimmernden Augen des Hirsches, an seinen in der eisigen Nachtluft wölkenden Atem, an den Moment, als ich beschloss, ihm nicht das Leben zu nehmen. Und ich begriff endlich, warum mir der Hirsch jede Nacht im Traum erschienen war.
    Ich hatte geglaubt, er würde mich heimsuchen, um mir mein Versagen und den Preis für meine Schwäche ins Gedächtnis zu rufen. Aber ich hatte mich geirrt.
    Der Hirsch hatte mich auf meine Stärke hinweisen wollen – nicht nur auf den Preis meines Mitleids, sondern auch auf die Macht, die es mir verlieh. Und Mitleid war ein Gefühl, das dem Dunklen für immer fremd bleiben würde.
    Ich hatte das Leben des Hirsches verschont. Und die Macht dieses Lebens gehörte mir genauso wie dem Mann, der es genommen hatte.
    Ich rang um Atem, während ich begriff, und ich spürte, wie sich die Umklammerung der unsichtbaren Hand etwas löste. Auf einmal hatte ich meine Macht wieder unter Kontrolle. Ich stand in Baghras Hütte und rief zum ersten Mal das Licht auf, spürte, wie es auf mich zuströmte, wie ich das in Besitz nahm, was mir rechtmäßig zustand. Dazu war ich geboren worden. Und ich würde mich nicht noch einmal von dieser Macht trennen lassen.
    Licht brach auf allen Seiten aus mir heraus, beständig und rein, und überflutete die Dunkelheit, in der Maljen eben noch gestanden hatte. Der Volkra, der ihn schon gepackt hatte, öffnete kreischend die Klauen und Maljen fiel auf die Knie. Er blutete aus mehreren Wunden, aber mein Licht, das ihn schützend umgab, trieb den Volkra zurück in die Finsternis.
    Der Dunkle schien kurz verwirrt zu sein. Er verengte die Augen und ich spürte, wie sein Wille auf mich zugreifen wollte, spürte den Druck der unsichtbaren Hand. Doch ich schüttelte sie ab. Sie war nichts. Er war nichts.
    Â»Was soll das?«, zischte er und hob die Hände. Finstere Bänder schlängelten sich auf mich zu, aber auf einen Wink von mir verdampften sie wie Nebel in der Sonne.
    Der Dunkle stürmte auf mich zu. Sein schönes Gesicht war wutverzerrt. Ich überlegte rasend schnell. Ich wusste, dass er mich am liebsten gleich hier und jetzt getötet hätte, aber das ging nicht, weil nur ich für das Licht sorgen konnte, das uns die Volkra vom Leib hielt.
    Â»Ergreift sie!«, rief er den hinter mir stehenden Wachen zu. Iwan wollte mich packen.
    Ich spürte das Gewicht des Reifs im Nacken. Das uralte Herz des Hirsches schlug im Gleichtakt mit meinem. Meine Macht stieg in mir auf und verfestigte sich im Nu zu einem Schwert, das in meiner Hand lag.
    Ich holte aus und schlug nach einem Mast. Er brach mit ohrenbetäubendem Krachen. Die Leute schrien auf und flohen panisch nach allen Seiten, als der von gleißendem Licht umhüllte Mast auf das Deck krachte. Schrecken überzog das Gesicht des Dunklen.
    Â»Der Schnitt!«, keuchte Iwan und wich zurück.
    Â»Bleibt mir vom Leib«, sagte ich warnend.
    Â»Du bist keine Mörderin, Alina«, sagte der Dunkle.
    Â»Unsere Landsleute, bei deren Ermordung ich gerade geholfen habe, würden dem wohl widersprechen.«
    Auf dem Skiff breitete sich Panik aus. Die Opritschki kreisten mich in sicherem Abstand ein.
    Â»Ihr habt gesehen, was er den Menschen angetan hat!«, rief ich den Wachen und Grischa zu. »Ist das die Zukunft, die ihr euch wünscht? Eine Welt der Finsternis? Eine Welt, geschaffen nach seinem Ebenbild?« Ich sah ihre Verwirrung, ihren Zorn, ihre Angst. »Wir können ihn noch aufhalten! Helft mir«, flehte ich. »Bitte helft mir.«
    Niemand regte sich. Soldaten und Grischa standen wie erstarrt an Deck. Sie hatten alle zu viel Angst, fürchteten sich sowohl vor ihm als auch vor einer Welt ohne seinen Schutz.
    Die Opritschki kamen langsam näher. Ich musste eine Entscheidung treffen. Dies war die allerletzte Chance, die sich Maljen und mir bot.
    Also los, dachte ich.
    Ich warf einen Blick über die Schulter und hoffte, dass Maljen verstand. Dann versuchte ich mich über die Reling zu stürzen.
    Â»Lasst sie nicht über Bord!«, schrie der Dunkle.
    Die Wachen stürmten
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