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Grimwood, Ken - Replay

Grimwood, Ken - Replay

Titel: Grimwood, Ken - Replay
Autoren: Das zweite Spiel
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Überschwang ihrer neun Jahre zu hören. Die Stimme seiner Schwester war die äußerste Verkörperung der verlorenen Unschuld, der zurückgedrehten Zeit.
    Die Unterhaltung mit seiner Familie war bedrückend geworden, ausgesprochen beunruhigend. Er brach sie ab, indem er versprach, in ein paar Tagen wieder anzurufen. Als er auflegte, war seine Stirn feucht von kaltem Schweiß, sein Mund trocken. Er ging die Treppe zur Lobby hinunter, kaufte sich für einen Vierteldollar eine Coke, trank sie in drei langen Schlucken leer. Es war jemand im Fernsehraum und schaute sich ›Sky King‹ an.
    Jeff wühlte in seiner anderen Tasche, fischte einen Schlüsselring heraus. Einer der sechs Schlüssel war für das Wohnheimzimmer, den hatte er vorige Nacht benutzt, um hineinzukommen; dann waren da drei weitere, die er nicht wiedererkannte, und zwei, die eindeutig ein Satz Zünd- und Kofferraumschlüssel von General Motors waren.
    Er ging nach draußen, blinzelte in den hellen Sonnenschein von Georgia. Wochenendstimmung lag über dem Campus, eine charakteristische träge Ruhe, die Jeff augenblicklich wiedererkannte. Bei der Studentenverbindung, wußte er, waren unfreiwillige Gruppen von Geiseln damit beschäftigt, die Häuser zu säubern und die Pappmache-Dekoration für die Samstagabendrunde von Parties aufzuhängen; die Mädchen in Harris Hall und dem namenlosen neuen Mädchenwohnheim schlenderten in Bermudashorts und Sandalen umher und warteten, daß ihre Nachmittagsverabredungen sie zu einer Fahrt nach Soap Creek oder Stone Mountain abholten. Weiter weg zu seiner Linken hörte Jeff die rhythmischen Sprechchöre der ROTC-Schulung der Air Force, die ohne Ironie oder Protest vonstatten ging. Niemand spielte Frisbee auf dem Rasen, kein Marihuanaduft hing in der Luft. Die Studenten konnten nichts wissen von den Veränderungen, die der Welt bevorstanden.
    Er musterte den Parkplatz vor Longstreet Hall und hielt Ausschau nach seinem blau-weißen achtundfünfziger Chevy. Er war nirgendwo zu sehen. Er ging den Pierce Drive entlang, dann schlug er auf der Arkwright Road einen weiten Bogen an Dobbs Hall vorbei und hinauf bis hinter die zweite Gruppe von Studentenwohnheimen; dort war der Wagen auch nicht.
    Als er in Richtung Clifton Road ging, hörte Jeff wieder die gebellten Kommandos und mechanischen Antworten vom ROTC-Gelände. In dem Moment rastete etwas in seinem Kopf ein, und er wandte sich nach links zu einer kleinen Brücke gegenüber dem Postgebäude, dann stapfte er eine Straße hinter der Phi-Chi-Studentenverbindung der Mediziner hinauf. Das Campusgelände endete hier, und einen Block weiter entdeckte er seinen Wagen. Er war ein Erstsemester, deshalb konnte er einen Parkausweis nicht vor dem kommenden Herbst bekommen; im ersten Jahr würde er außerhalb des Campus parken müssen. Trotzdem war ein Strafmandat an der Windschutzscheibe. Er hatte den Wagen heute morgen woanders hinfahren sollen, entsprechend den Stunden, die auf dem Schild daneben ausgewiesen waren.
    Er setzte sich hinter das Steuerrad, und die Atmosphäre und der Geruch des Wagens riefen ein schwindelerregendes Durcheinander von Reaktionen wach. Er hatte Hunderte, vielleicht Tausende von Stunden auf diesem ramponierten Sitz zugebracht: in Drive-in-Kinos und -Restaurants zusammen mit Judy, auf Fahrten mit Martin oder anderen Freunden oder allein – nach Chicago, Florida, einmal sogar bis hinunter nach Mexico City. Er war in diesem Wagen vom Jungen zum Erwachsenen gereift, mehr als in jedem Wohnheimzimmer oder Apartment oder jeder Stadt. Er hatte darin gebumst, sich darin betrunken, war damit zum verfrühten Begräbnis seines Lieblingsonkels gefahren, hatte den temperamentvollen, kräftigen Motor dazu benutzt, um Zorn, Freude, Niedergeschlagenheit, Langeweile, Reue auszudrücken. Er hatte dem Wagen niemals einen Namen gegeben, hatte das für kindisch gehalten; aber jetzt begriff er, wieviel er ihm bedeutet hatte, wie sehr seine eigene Identität mit der schrulligen Persönlichkeit dieses alten Chevy verwoben war.
    Jeff steckte den Zündschlüssel ein, ließ den Wagen an. Der Motor hatte eine Fehlzündung, dann erwachte er grollend zum Leben. Er wendete den Wagen, bog hinter dem halbfertigen Klotz des Communicative Disease Center [Zentrum für übertragbare Krankheiten] rechts auf die Clifton Road ein. In den Achtzigern würde man es immer noch CDC nennen, doch dann stünden die Initialen für Center of Disease Control [Zentrum für Seuchenbekämpfung] , und es würde
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