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Grimwood, Ken - Replay

Grimwood, Ken - Replay

Titel: Grimwood, Ken - Replay
Autoren: Das zweite Spiel
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Spiegelbild gegenübersah. Der Junge in dem Spiegel wirkte objektiv ein wenig reifer; er hatte in diesem Alter selten Probleme gehabt, Alkohol zu bekommen, genau wie bei der Bedienung eben, doch Jeff wußte, daß dies eine reine Illusion war, die durch seine Größe und die tiefliegenden Augen hervorgerufen wurde. Für ihn war das Spiegelbild das eines unerfahrenen Jungen ohne Narben.
    Und dieser Junge war er selbst. Nicht in der Erinnerung, sondern hier und jetzt: diese faltenlosen Hände, mit denen er seinen Drink hielt, diese konzentrierten Augen, mit denen er sah.
    »Können Sie schon einen neuen gebrauchen, Süßer?«
    Die Bedienung lächelte ihn nett an, mit hellroten Lippen unter dunklen Mascara-Augen und einer veralteten toupierten Hochfrisur. Sie trug ein ›futuristisches‹ Kostüm, ein irisierendes blaues Minikleid von der Art, wie es in zwei oder drei Jahren überall von den jungen Frauen getragen werden würde.
    In zwei oder drei Jahren – von jetzt an. Den frühen Sechzigern. Gott im Himmel!
    Er konnte nicht länger abstreiten, was geschehen war, konnte nicht mehr darauf hoffen, es wegzuargumentieren. Er war im Begriff gewesen, an einer Herzattacke zu sterben, hatte jedoch überlebt; er war in seinem Büro gewesen, im Jahre 1988, und jetzt war er… hier. In Atlanta, 1963.
    Jeff suchte nach einer Erklärung, nach etwas, das zumindest ansatzweise einen Sinn ergäbe. Er hatte als Heranwachsender eine ganze Menge Science Fiction gelesen, aber seine gegenwärtige Situation hatte keinerlei Ähnlichkeit mit den Zeitreise-Szenarios, denen er jemals begegnet war. Es gab keine Maschine, keinen Wissenschaftler, ob verrückt oder nicht; und im Gegensatz zu den Gestalten, von denen er so begierig gelesen hatte, hatte sein eigener Körper seinen jugendlichen Zustand wiedererlangt. Es war, als hätte einzig und allein sein Bewußtsein die Jahre übersprungen und das frühere Bewußtsein ausgelöscht, um das Gehirn seines eigenen achtzehnjährigen Selbst zu bewohnen.
    War er also dem Tode entronnen, oder war er ihm nur ausgewichen? Lag sein lebloser Körper in einem alternativen Strom der Zukunft in einer New Yorker Leichenhalle und wurde vom Skalpell eines Pathologen aufgeschlitzt und seziert?
    Vielleicht lag er in einem Koma: hoffnungslos in ein imaginäres neues Leben verstrickt, auf Geheiß eines verwüsteten, sterbenden Gehirns. Und dennoch, dennoch…
    »Süßer?« fragte die Bedienung. »Soll ich nachschenken, oder nicht?«
    »Ich… äh… ich glaube, ich trinke statt dessen lieber eine Tasse Kaffee, wenn das möglich ist.«
    »Aber klar doch. Einen Irish Coffee vielleicht?«
    »Nein, einen gewöhnlichen. Ein wenig Sahne, ohne Zucker.«
    Das Mädchen aus der Vergangenheit brachte seinen Kaffee, und Jeff starrte auf die verstreuten Lichter der halberbauten Stadt hinaus, die unter dem verblassenden Himmel angingen. Die Sonne war hinter den roten Lehmhügeln verschwunden, die sich nach Alabama erstreckten, in Richtung der Jahre der umfassenden und chaotischen Veränderungen, der Tragödien und Träume.
    Der dampfende Kaffee verbrannte seine Lippen, und er kühlte sie mit einem Schluck Eiswasser. Die Welt jenseits dieser Fenster war kein Traum; sie war ebenso massiv wie unschuldig, ebenso wirklich wie blind optimistisch.
    Frühling 1963.
    Es gab so viele Möglichkeiten der Wahl.

2
    Jeff verbrachte den Rest des Abends damit, in den Straßen der Innenstadt von Atlanta herumzulaufen, Augen und Ohren weit offen für jede Nuance der wiedererstandenen Vergangenheit: Schilder für ›Weiße‹ und ›Farbige‹ an öffentlichen Toiletten, Frauen mit Hüten und Handschuhen, ein Werbeplakat für eine Europareise mit der Queen Mary im Schaufenster eines Reisebüros, eine Zigarette in der Hand fast jedes männlichen Passanten.
    Jeff bekam erst nach elf Hunger, und dann genehmigte er sich an einem kleinen Stand nahe Five Points einen Hamburger und ein Bier. Er glaubte, sich aus der Zeit vor fünfundzwanzig Jahren an die nichtssagende Imbißbude zu erinnern, als einen Ort, den er und Judy nach dem Kino gelegentlich für einen Snack aufgesucht hatten; aber inzwischen war er so verwirrt, so erschöpft von der unaufhörlichen Flut von neuen/alten Ansichten und Orten, daß er es nicht mehr genau sagen konnte. Jede Ladenfront, jedes Gesicht eines Passanten kam ihm inzwischen beunruhigend vertraut vor, obwohl er wußte, daß er sich unmöglich an alles, was er sah, erinnern konnte. Er hatte die Fähigkeit verloren, falsche
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