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Grimwood, Ken - Replay

Grimwood, Ken - Replay

Titel: Grimwood, Ken - Replay
Autoren: Das zweite Spiel
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hing, und er drückte zwei V-förmige Löcher in die Oberseite der Dose. Der Junge von den Tanksäulen rief durch die schäbige Fliegentür: »Sieht aus, als brauchten Sie mehr als drei Liter Öl, Mister!«
    »Schön, gieß soviel rein, wie reinpaßt. Und sieh den Keilriemen nach, in Ordnung?«
    Jeff nahm einen großen Schluck Bier, holte ein Magazin aus dem Regal. Darin war ein Artikel über die neue Pop-art-Mode: Lichtensteins Vergrößerungen von Comic-Illustrationen, Oldenburgs riesige weiche Vinylhamburger. Komisch, er hätte gedacht, daß all das erst später passiert war, ‘65 oder ‘66. Hatte er eine Abweichung entdeckt? War diese Welt bereits geringfügig anders als die, die er zu kennen glaubte?
    Er mußte mit jemandem sprechen. Martin würde das Ganze bloß für einen großen Spaß halten, und seine Eltern würden sich um seine geistige Gesundheit sorgen. Vielleicht war es das; vielleicht sollte er einen Psychiater aufsuchen. Ein Arzt würde ihm wenigstens zuhören und das Gespräch vertraulich behandeln; einer solchen Begegnung würde jedoch die unausgesprochene Voraussetzung eines psychischen Problems zugrunde liegen, der Wunsch, von etwas ›geheilt‹ zu werden.
    Nein, es gab wirklich niemanden, mit dem er dies besprechen konnte, jedenfalls nicht offen. Doch er konnte auch nicht jedermann ausweichen, aus Angst, daß es herauskommen könnte; das würde wahrscheinlich merkwürdiger wirken als jeder anachronistische Versprecher, der ihm unterlaufen könnte. Und er fing an, sich einsam zu fühlen, verdammt noch mal. Selbst wenn er nicht die Wahrheit sagen konnte, oder was auch immer er von der Wahrheit wußte, er brauchte den Trost menschlicher Gesellschaft, nach allem, was er durchgemacht hatte.
    »Könnte ich etwas Kleingeld für das Telefon haben?« fragte Jeff die Frau an der Kasse, indem er ihr einen Fünfer reichte.
    »Für einen Dollar reicht?«
    »Ich möchte in Atlanta anrufen.«
    Sie nickte, drückte den Knopf mit der Aufschrift ›Kein Verkauf‹ und nahm ein paar Münzen aus der Lade. »Ein Dollar ist mehr als genug, junger Mann.«

3
    Das Mädchen am Auskunftsschalter von Harris Hall war offensichtlich verärgert, daß sie den Samstagabend-Empfangsdienst hatte übernehmen müssen, suchte ihre Wochenendunterhaltung jedoch dort, wo sie sie finden konnte, indem sie die Rituale ihrer Altersgenossen beobachtete. Sie musterte Jeff beim Hereinkommen mit einem kühl abschätzenden Blick, und in ihrer Stimme lag ein Unterton von sarkastischer Belustigung, als sie oben anrief, um Judy Gordon mitzuteilen, daß ihr Partner da war. Vielleicht wußte sie, daß Judy am Abend zuvor versetzt worden war; vielleicht hatte sie sogar das Gespräch mitgehört, als Jeff am Nachmittag von der Tankstelle nahe Macon aus angerufen hatte.
    Das rätselhafte Fastlächeln des Mädchens war irgendwie entmutigend, deshalb nahm er auf einem der unbequemen Sofas im angrenzenden Warteraum Platz, wo eine Brünette mit Pferdeschwanz und ihr Freund auf einem alten Steinway neben dem Kamin ›Heart and Soul‹ spielten. Das Mädchen lächelte und winkte Jeff zu, als er den Raum betrat. Er hatte keine Ahnung, wer sie war, wahrscheinlich eine Freundin von Judy, die er längst vergessen hatte, doch er nickte und erwiderte ihr Lächeln. Acht oder neun weitere junge Männer saßen über die luftige Lounge verteilt, jeder in respektvoller Entfernung von den anderen. Zwei von ihnen hatten einen Strauß Schnittblumen dabei, und einer hielt eine herzförmige Dose mit Whitman’s-Konfekt in den Händen. Alle trugen einen stoischen Gesichtsausdruck zur Schau, der ihre begierige, aber nervöse Erwartung nur unzureichend zu verbergen vermochte: Freier am Tor zum Tempel der Aphrodite, unerprobte Anwärter auf die Gunst der Nymphen im Innern dieser Festung. Die Nacht der Rendezvous, 1963.
    Jeff erinnerte sich an das Gefühl nur allzu gut. Sogar jetzt, stellte er sarkastisch fest, waren seine Handflächen feucht vor Anspannung. Vom Treppenhaus her ertönte helles Gelächter, strömte in die Lobby. Die jungen Männer strafften ihre Krawattenknoten, sahen auf die Armbanduhren, drückten Haarbüschel zurecht. Zwei Mädchen entdecken ihre Begleiter und führten sie durch die Tür in die geheimnisvolle Nacht hinaus.
    Es dauerte zwanzig Minuten, bis Judy erschien, mit einer Miene, die eindeutig als ein Ausdruck kalter Entschlossenheit gemeint war. Aber Jeff hatte bloß Augen für ihre unglaubliche Jugend, eine frühlingshafte Zartheit, die weit über
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