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Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor

Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor

Titel: Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
Autoren: Unbekannter Autor
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vor wie ein Störenfried, wie ein Eindringling in ihre Privatsphäre. Er verließ das Spielzeugmuseum, spürte, daß er sie freigeben mußte.
    Sie freigeben: Lieber Himmel, wie eigentümlich besitzergreifend, wenn man bedachte, daß er sie gar nicht weiter kannte und kein einziges Wort mit ihr gewechselt hatte. In Wirklichkeit nicht einmal einen Blick, abgesehen von dem, der ihn flüchtig gestreift, ihn wahrscheinlich aber nicht registriert hatte.
    Und er zerpflückte das Ganze in seiner Phantasie wie ein pubertierender Jüngling, kam immer wieder darauf zurück, daß sie sich zusammen an zwei verschiedenen Orten aufgehalten hatten, so als könnte er darin etwas entdecken, das wenigstens für ein flüchtiges Interesse ihrerseits sprach ...
    Ein weiteres Anzeichen - sein Arzt würde es »Symptom« nennen - dafür, wie unendlich müde er war.
    Gegen dieses pubertäre Verlangen, sich noch eine Weile hier herumzutreiben, half nur eins: Er mußte zum Parkplatz zurückgehen, seinen Mietwagen abholen und sich auf die Weiterfahrt nach London machen.
    Er schaffte es bis hinters Lenkrad des Austin Rover, und während der Motor im Leerlauf summte, starrte er durch die Windschutzscheibe auf den beinahe menschenleeren Parkplatz und die Gartenanlage dahinter, wo sich Kinderschaukeln sacht im Wind wiegten und drehten.
    Es war eher ein Witz, eine Schnapsidee gewesen, nach einer im Polizeipräsidium von Leeds verplemperten Woche das kurze Stück nach Haworth zu fahren und dort zu übernachten.
    Er ließ sich tiefer auf den Sitz rutschen und fand seinen plötzlichen Entschluß, nach Haus zu fahren, gleichermaßen albern (und symptomatisch, Mr. Jury), denn schließlich hatte er für eine Nacht hierbleiben wollen. Er war einfach zu müde, um die vier, fünf Stunden Fahrt nach London noch zu schaffen. Zum Teil war die Woche in Leeds an seiner Müdigkeit schuld, denn dort hatte er kaum mehr zuwege gebracht, als sich gehässige Blicke einzufangen.
    Dieser Drang, sich selbst herunterzumachen, gehörte auch zu seiner Unpäßlichkeit. Psychovegetative Dekompensation, Mr. Jury , hatte jedenfalls sein Arzt es in seiner pedantischen Art genannt und die Worte auf der Zunge zergehen lassen wie feines Konfekt. Zum größeren Teil aber leitete sich seine Depression aus der Erkenntnis her, daß er sich diesen Auftrag hatte andrehen lassen, nur um von Victoria Street und New Scotland Yard wegzukommen, wo er in letzter Zeit anscheinend nur noch Pfusch machte, Fehlentscheidungen traf und zu ganz untypischen Wutausbrüchen neigte.
    Da saß er nun, sah vor sich den sanft geneigten Hang des schneegesprenkelten Parks, aus dem das Licht wich und die Schaukeln dem Dunkel überließ, und überlegte, was an seinem Verhalten in den letzten Wochen berechtigt und was Überreaktion gewesen war. Nicht, daß sich Dramatisches ereignet hätte, aber Jury hatte die Nase so voll von Chief Superintendent Racers Litanei seiner jeweils neuesten Fehltritte (wie nichtig auch immer), daß er sich erboten hatte, selbst um seine Versetzung einzukommen. Was Jury daran störte, war nicht das Melodramatische dieser Entscheidung, sondern dessen Fehlen; er hatte den Vorschlag ganz emotionslos, nüchtern gemacht und nicht einmal das Dilemma, in das er Racer stürzte, so richtig genießen können.
    Psychovegetative Dekompensation. Urlaub, das ist es, was Sie brauchen. Sie sind überarbeitet. Und der Arzt hatte Jury Rezepte hingeschoben, die dieser beim Verlassen der Praxis in die nächste Mülltonne warf.
    Psychovegetative Dekompensation. Das Wort ist nicht besser und nicht schlechter als andere auch (dachte Jury, wenn er um drei Uhr morgens wach lag, was neuerdings die Regel war); vielleicht beschrieb es mit seinem fremdartigen Klang diesen Zustand ja besser als seine Muttersprache, die dazu offenbar zu armselig war. Unpäßlichkeit eignete sich nicht so gut, obwohl er das Wort vorzog, da es sich nach etwas Vorübergehendem anhörte, nach etwas, das man sich beim Sonnenbaden am Strand von Amalfi zuziehen und dort wie einen Sonnenbrand zurücklassen konnte.
    Bei sich nannte er es schlicht und einfach Depression. Irgendwie hatte der Begriff etwas Tröstliches, da alle Welt darunter litt oder meinte, ab und zu darunter zu leiden. Nur daß Jury spürte, sie würde nicht einfach vorübergehen wie ein Sonnenbrand. Eigentlich verwunderte es ihn, daß jedermann Depressionen für einen Zustand zu halten schien, bei dem man sich lediglich dumpf und stumpf vorkam und kein Interesse für das
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