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Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor

Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor

Titel: Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
Autoren: Unbekannter Autor
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Tagesgeschehen aufbrachte, wo es in Wahrheit eher das genaue Gegenteil war. Es war ein aktiver Zustand, denn die widerstrebenden Empfindungen und die fieberhafte Grübelei über die eigene Arbeit, über das Leben und die Erwartungen, die man erfüllen sollte und die an sich schon widersprüchlich und undurchsichtig waren, kamen einer Folter gleich. Er wußte natürlich, daß er von Natur aus kein zufriedener Mensch war. Aber er war ein Meister darin, äußerliche Gelassenheit vorzutäuschen. Eine derartige Fassade mochte durchaus hilfreich und vielleicht auch nötig sein, um als Polizist einwandfrei zu funktionieren. Doch wenn er nachts wach lag und zur Decke starrte, dann merkte er, daß der Lack Risse bekam.
    Jetzt, in dem muffigen Auto, ging ihm auf, daß er diesen kleinen Abstecher wohl nur gemacht hatte, um ein, zwei Tage Anonymität zu genießen. Dieses Gefühl von Ziellosigkeit, von vagen Aussichten und ungeformten Stunden, war das der Grund, weshalb er in der Frau im Museum eine Art Geistesverwandte sah? Sie schien sich genauso treiben zu lassen wie er.
    Er schloß das Auto wieder ab und machte sich mit seinen Siebensachen zum Fremdenverkehrsamt auf. Dabei ärgerte er sich über sich selbst, weil er wieder einmal einer Laune nachgegeben hatte, was sich für einen Mann, dessen Leben nur dem Sichten von Tatsachen und, ja, gelegentlichen Ratespielen gewidmet war, ganz und gar nicht gehörte.
    Leeds vermutete ihn in London, London vermutete ihn in Leeds. Irgendwie konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, daß er und diese Frau auf Stippvisite im Niemandsland waren.
    Und darum verwunderte es ihn auch kaum, sondern kam ihm eher selbstverständlich vor, daß er sie im Speiseraum des Gasthauses »Zum großen Schweigen« entdeckte, wo er ein Zimmer genommen hatte.
    Sie saß an einem Ecktisch und war, abgesehen von ihm, der einzige Gast. Beim Essen las sie ein Buch, und sie hob auch nicht den Blick, als Jury eintrat und sich setzte.
    Auch er hatte ein Buch dabei. Vielleicht war es symptomatisch, Mr. Jury , daß er häufiger allein mit einem Buch beim Essen saß als zusammen mit anderen Menschen. Erfundene Charaktere waren, wie er in letzter Zeit immer wieder feststellte, im allgemeinen bessere Gesellschafter bei Tisch als solche aus Fleisch und Blut. Noch am vergangenen Abend hatte er ein Essen im Haus eines Inspektors vom Polizeipräsidium in Wakefield durchstehen müssen. Die Gastgeberin schien, wie ein Werbemanager, jedes Schweigen bei Tisch als gefahrvoll für ihr Produkt zu empfinden. Das Wetter, die Grundstückswerte im Norden und im Süden, London, das Theater, New Scotland Yard - ewig die gleichen Fragen und Antworten, die mit der Suppe abebbten und mit dem Nachtisch zurückgeflutet kamen.
    Da saßen sie nun beide im stillen Speisesaal, lasen schweigend in ihren Büchern, tranken einen Schluck Wein, bestrichen ihr Brot mit Butter. Es war zehn Uhr, und das mochte erklären, warum das Restaurant so schlecht besucht war. Ein paar Tische zeugten davon, daß die Gäste bereits gegangen waren.
    Was sie wohl las; fesselte es sie oder war sie wie er auf Gesellschaft aus? Verläßliche, kultivierte Gesellschaft. Er hätte etwas Passendes, etwas Brontemäßiges wählen sollen, aber nein, er las gerade ein Buch von dem verstorbenen Philip Larkin. Es hieß A Girl in Winter und gab mit seiner einfachen Handlung, seinem eleganten Stil und der traurigen Heldin ebenso gutes Futter für seinen Geist ab wie das Roastbeef für seinen Leib. Es war ein ruhiges Buch.
    Sie legte die Serviette beiseite, stand auf, kam an seinem Tisch vorbei (registrierte ihn jedoch immer noch nicht) und hielt dabei ihr Buch gegen die Ledertasche gedrückt. Er verrenkte sich ein wenig den Hals, um den Titel lesen zu können: Der Mythos von Sisyphos.
    Alles andere als ein ruhiges Buch.
    Außer ihnen war niemand in der Lounge. Ein Pärchen, das für den Speisesaal zu spät gekommen war, hatte in diesem Teil des langen Vorderzimmers, das auch als Bar diente, gespeist. Das Gasthaus »Zum großen Schweigen« hatte eine anheimelnde und freundliche Atmosphäre: Kupfer und Messing glänzten; die Stühle und Bänke aus dunklem Holz mit den geblümten Kissen waren so um die Tische gruppiert, daß sie zu angeregten Gesprächen einluden, wie bei dem Pärchen, das gerade die Lounge verließ.
    Jury saß an der Bar dicht bei der Tür, die zum öffentlichen Ausschank führte. Gedämpfte Stimmen drangen herein. Kein anderer Laut störte die Stille, abgesehen vom
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