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Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor

Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor

Titel: Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
Autoren: Unbekannter Autor
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gefangenen Vogel laut vorzulesen, aber vergebliche Liebesmüh, die Kleinen quengelten. Sie hatten wohl genug von verstaubten Manuskripten, düsteren Porträts, dem Geruch von altem Leder und Bienenwachs und strebten sonnigeren und köstlicher duftenden Gefilden zu, einer der Teestuben am Ort nämlich. Offenbar gehörte es zu den Familienritualen, daß sie nach Museumsbesuchen >Schoko und Kekse< spendiert bekamen, denn das intonierten die beiden einstimmig und in einem fort. Schokoundkekseschokoundkekseschokoundkekse. 
    Ihr beschwörender Singsang wurde immer lauter, und demnächst würde es Gebrüll und Tränen geben. Die Mutter blickte sich peinlich berührt um, und der Vater unternahm erfolglose Beschwichtigungsversuche.
    Anscheinend bewirkte das Quengeln und Betteln der Kleinen, daß die Frau im Kaschmirmantel ihre Umgebung plötzlich wahrnahm; wie jemand, der in einem fremden Zimmer aufwacht, in das er nur aus Versehen geraten ist und das eine vage Gefahr zu bergen scheint. Ja, ihre Miene glich irgendwie der von Branwell Bronte auf dem anrührenden Selbstbildnis, wo er sich seine eigene Sterbeszene ausmalt. Sie wirkte schmerzerfüllt.
    Dann schob sie den Riemen ihrer Schultertasche höher und ging langsam ins Nebenzimmer. Jury spürte, daß ihr die Bronte-Relikte genauso gleichgültig waren wie den TeddybärKindern. Sie beugte sich über eine Vitrine, schob das goldbraune Haar zurück, das ihr ins Gesicht gefallen war, so als versperrte es ihr den Blick auf Charlottes schmale Stiefeletten, die winzigen Handschuhe und die Nachtmütze. Aber ihr Blick huschte nur flüchtig darüber hin, während ihre Hand geistesabwesend über die Holzkante des Kastens fuhr.
    Jury musterte die Tür einer alten Kirchenbank, die bei der Zerstörung der Kirche vom Gestühl übriggeblieben war. Die Aufschrift darauf besagte, daß eine gewisse Lady vom Crook-Haus als erste in der Bank hatte sitzen dürfen. Sieh an, damals hatte man offenbar abwechselnd gesessen.
    Wie sie so langsam den Schautisch in Charlottes Zimmer umrundete, mochte das auf ein weniger geschultes Auge als das seine wirken, als sei sie gänzlich in die Schaustücke vertieft. Doch weit gefehlt. Ihre ausdrucksvollen klugen Augen schweiften zwar hierhin und dorthin, zeugten jedoch von Teilnahmslosigkeit und schienen nach etwas anderem Ausschau zu halten. Oder nach jemand anderem. Es schien, als habe sie nichts Besseres zu tun, als schlage sie die Zeit tot.
    Ja, genau das war es: Die geistesabwesende Miene und die Art, wie sie immer wieder rasch ein wenig den Kopf drehte, machten deutlich, daß sie lauschte und wartete, als habe sie eigentlich eine Verabredung gehabt.
    Ihn hatte sie mit Sicherheit nicht wahrgenommen; ihr Blick hatte sein Gesicht gestreift, als gehörte er zum Bronte-Inventar, zu den Porträts oder Bronzebüsten. Selbst wenn er ihr fünf Minuten früher vorgestellt worden wäre, sie hätte ihn vermutlich kaum wiedererkannt. Nur vor einem Schaukasten blieb sie länger stehen und schien wirklich hinzusehen, nämlich vor einigen Darstellungen von Angria und Gondal, den von den Geschwistern erfundenen Phantasiereichen.
    Dann drehte sie sich um und ging zur Treppe.
    Na schön, er hatte sowieso gerade gehen wollen (redete Jury sich ein), also folgte er ihr. An der Treppe blieb er stehen und betrachtete das berühmte Porträt der Schwestern, das der Bruder von ihnen gemalt hatte. Immer noch war die einst ausgemalte Stelle, wo sich Branwell aus dem Bild herausgenommen hatte, als verschwommener Umriß zu sehen.
    Auch Familie Teddybär war gegangen und strebte über die schmale Straße der Teestube zu, und die Kinder schafften es irgendwie auszuschwärmen, als wären sie zehn statt zwei.
    Anfangs dachte er, die Frau wollte vielleicht auch eine Tasse Tee trinken, doch sie stand einfach am Bordstein und zögerte, als wollte sie in London über einen Zebrastreifen gehen. Auf der Kuppe dieses Hügels, den die Bronte-Wallfahrer erklimmen mußten, gab es so gut wie keinen Verkehr, abgesehen von einem Taxi, das beim Fremdenverkehrsamt wartete, und einem Jungen, der ein stures Brauereipferd mit Scheuklappen zum Weitergehen antrieb.
    Ein kalter Wind mit einem Vorgeschmack von Regen fegte über das Kopfsteinpflaster, und die Frau schlug den Mantelkragen hoch, so daß ihr Haar darin verschwand. Dann vergrub sie die Hände in den Taschen und ging die Straße entlang. Womöglich strebte sie der verlockenden Heimeligkeit des weiß getünchten Hotels an der Ecke zu, vielleicht (so
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