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Grim - Das Siegel des Feuers

Grim - Das Siegel des Feuers

Titel: Grim - Das Siegel des Feuers
Autoren: Gesa Schwartz
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Jakob das Kinn. »Und was ist mit dir selbst?«, fragte er mit seltsam kalter Stimme. »Mit dir, einer Hartidin? Was hast du in Theryons Kuppelsaal getan? Was ist mit der Welt der Feen? Nicht einmal du kennst deine Grenzen, Mia. Nicht einmal du weißt, wie du mit einer fremden Welt umgehen musst. Selbst du bist deinen niederen Gefühlen gefolgt. Und deiner Gier. Selbst du, Mia.«
    Sie sah die Fee, die tödlich verwundet zu Boden sank, so deutlich vor sich, als würde es gerade passieren. Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden. Er hatte recht, mit jedem einzelnen Wort hatte er recht. Sie schüttelte den Kopf. Auf einmal kam es ihr vor, als wäre sie durch eine Wüste gewandert, nur um dann zu erfahren, dass am anderen Ende der Einsamkeit eine neue Ödnis begann. Nichts hatte sie erreicht — nichts würde sich ändern.
    »Aber was soll ich dann tun?«, fragte sie, ohne ihn anzusehen.
    Jakob schwieg eine Weile. »Bevor der Zauber des Vergessens gebrochen werden kann, müssen die Menschen wissen, dass es die Anderwelt gibt — ohne sie zu sehen.«
    Mia musste an ihre durchgedrehte Tante Josi denken.
Ich habe sie nie gesehen. Aber ich habe sie gefühlt. Ich glaube, dass alle Menschen tief in sich diese Fähigkeit haben. Früher haben sie es noch viel stärker gespürt. Aber er ist immer noch da — dieser dunkle Punkt in uns, der die Sehnsucht kennt.
    »Wenn es so weit gekommen ist«, fuhr Jakob fort, »werden die Menschen nicht mehr danach gieren, die Geschöpfe der Anderwelt zu sehen — denn sie werden sie fühlen und damit wissen, dass sie da sind. Und sie werden wissen, dass sie selbst nur vollständig sind, wenn sie sich mit der Anderwelt verbinden — in Freundschaft. Sie werden das Bedürfnis haben, mit denen, die sie fühlen, wieder in Harmonie zusammenzuleben und die durch den Zauber des Vergessens getrennten Welten wieder zu einer zu verbinden.«
    Mia stieß die Luft aus. »Aber wie soll ich die Menschen dazu bringen, dass sie wissen, was sie nicht sehen? Sie werden Beweise verlangen.«
    Jakob lächelte ein wenig. »Jeder Mensch kann die Anderwelt fühlen, wenn er seine Sinne und sein Bewusstsein nicht mit anderen Dingen verkleistert. Das Mittel der Hartide, Mia, ist die Kunst. Nichts setzt die Ignoranz so schnell schachmatt wie ein Flug über den eigenen Horizont — und eben diesen bietet die Phantasie, die Basis aller Kreativität, die Grundlage der Freiheit.
    Doch für diesen Flug müssen die Menschen die Phantasie in ihr Herz lassen. Dann kann die Kunst sie verwandeln — für eine Welt, die versteckt vor ihren Augen existiert.« Er hielt kurz inne. »Wie hat Lucas immer gesagt: Du hast Schlösser geknackt, seit du fünf bist — weil du Grenzen und Barrieren nicht akzeptieren willst, die andere dir setzen. Immer wieder hast du das seitdem getan, auch bei ihm.« Er deutete auf Grim. »Du reißt Mauern ein und hast ihn so gerettet. Nichts anderes ist es, was die Kunst tut. Sie weckt und lässt träumen. Und auf ihren Träumen werden die Menschen zurückfinden in die Anderwelt, die immer ein Teil von ihnen war.«
    Mia schwieg. Sie hatte unzählige Fragen und Entgegnungen, aber je länger sie darüber nachdachte, desto stärker schmolzen sie auf drei Worte zusammen. Schließlich nickte sie. »Du hast recht«, sagte sie leise. Sie sah Jakob an, doch er deutete auf den Nebel, der plötzlich hinter ihm aufzog.
    »Unsere Zeit wird knapp«, sagte er. »Aber es ist jemand hier, der dich noch einmal sehen wollte. Er ist mit den Nebeln der Totenwelt an den Rand der Feenwelt gekommen, denn er möchte sich von dir verabschieden.«
    Mia sah, wie eine Gestalt sich aus dem Nebel schob, eine dunkle, geduckte Gestalt mit klauenartigen Händen und verfilzten Haaren, die mehr aussahen wie ein Fell. Zögernd hob die Gestalt den Kopf und neigte ihn leicht zur Seite, fast so, als würde sie nur mit dem rechten Auge klar sehen können. Die Erkenntnis traf Mia wie ein Schlag.
    »Lucas«, flüsterte sie kaum hörbar.
    Jakob nickte, doch Mia sah es nur aus dem Augenwinkel. Sie schaute auf die Gestalt im Nebel, die regungslos zu ihr herübersah. »Das Reich der Toten verändert jene, die warten. Und er hat lange, sehr lange auf dich gewartet. Er möchte nicht, dass du dich erschrickst. Du sollst lieber sein totes Gesicht in Erinnerung behalten als das, was er jetzt ist.«
    Da hob Lucas die Hand. Mia spürte, wie ihr eine Träne über die Wange lief, als sie seine Geste erwiderte. Dann hörte sie ein Lachen — sein Lachen, und es
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