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Grim - Das Siegel des Feuers

Grim - Das Siegel des Feuers

Titel: Grim - Das Siegel des Feuers
Autoren: Gesa Schwartz
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gelungen, der wie ein sauronmäßiges Auge ausgesehen hatte. Aber mit der Zeit hatte sie eigene Stile entwickelt.
Jedes Ding hat eine Schale,
hatte Lucas immer gesagt.
Als Künstler musst du hinter sie schauen und ertragen, was du siehst.
    Jedes Jahr zeichnete sie. seine Büste. Aber es war nie dasselbe Gesicht. Im vergangenen Jahr hatte der Mond den Friedhof in helles Licht getaucht, und sie hatte Lucas' Augen gesehen, seinen einsamen, traurigen Blick und das Flackern weit hinten in seiner Pupille. In diesem Jahr sah sie seinen Mund. Und er sprach zu ihr, als sie den Stift ansetzte, eine Stimme aus der Vergangenheit, die sich mit dem Rauschen der Blätter vermengte und klang wie brechendes Eis. Kaum hatte sie das gedacht, ging ein Windstoß durch die Bäume. Wie eine kalte Hand fuhr er Mia ins Gesicht.
    Erschrocken hob sie den Kopf. Sie fühlte, dass da etwas war, etwas in den Schatten, das dort hockte und sie anstarrte. Unsinn, dachte sie halbherzig und wollte weiterzeichnen, aber sie konnte sich nicht rühren. Der Lichtschein ihrer Kerze hatte einen goldenen Kranz um sie gelegt, aber jenseits davon lauerte die Dunkelheit. Für einen Moment erstarb der Wind so vollständig, dass Mia nur noch ihren eigenen Atem hörte. Nicht einmal der dumpfe Lärm der Straße erreichte sie mehr. Etwas atmete in ihrer Nähe, und es war größer als eine der Katzen, die sich auf dem Friedhof häuslich eingerichtet hatten. Sie hörte ein Lachen wie aus weiter Ferne, ein Seufzen — und dann blies jemand die Kerze aus.
    Im letzten Moment unterdrückte Mia einen Schrei. Sie sprang auf die Füße. Ihr Blick fiel hilflos in die Dunkelheit. Dafür hörte sie umso mehr: Scharren im Laub, Schritte auf Kies, heiseres Keuchen. Mit aller Kraft versuchte sie, ihre Panik niederzukämpfen. Da durchzog ein seltsames Knistern die Nacht. Sie hatte dieses Geräusch schon einmal gehört ...
    Wie von einem Blitz erhellt zuckte das Gesicht des Polizisten vor ihr auf. Wieder barsten seine Augen, wieder glotzte er sie mit diesem wahnsinnigen Grinsen an. Sie berührte den Stamm der Eiche — und erstarrte. Fassungslos sah sie auf ihre Hand — Raureif hatte die Rinde überzogen. Glitzernd bildeten sich Eiskristalle, sie krochen über Mias Finger, rasend schnell wie ein lebendiges Wesen. Atemlos wich sie zurück. Die Bäume um sie herum vereisten, die Blätter der Eiche wurden erst grau und dann weiß. Knisternd kroch das Eis auf sie zu. Da flackerte es über den Gräbern, und Gesichter tauchten in der Nacht auf, eingefallene, halb verbrannte Fratzen mit schwarzen Augenhöhlen. Sie starrten Mia an, Nebel zog über sie hin und gab ihnen dürre, in weiße Schleier gehüllte Körper, während geisterhafte Gesänge aus ihren Mündern drangen. Die Dunkelheit zwischen zwei Totenhäusern verdichtete sich und wurde zu einem in schwarzen Samt gekleideten Mann. Seine langen dunklen Haare fielen in kunstvollen Zöpfen auf seinen Rücken hinab, und sein ebenmäßiges Gesicht mit den hohen Wangenknochen zeigte keine Regung. Auf den ersten Blick schien er ein Mensch zu sein. Aber seine Haut war so durchscheinend, dass Mia selbst in der Dunkelheit die blauen Adern darunter sehen konnte, und in seinen Augen fand sie keine Spiegelung des Friedhofs. Eine trostlose Ebene sah sie darin, von verkrüppelten Bäumen besetzt. Ab und zu flogen Nebelfetzen darüber hin wie zerrissene Tücher, und über der fruchtlosen Erde prangte ein roter Mond. Mia starrte den Fremden an — es war, als schaute sie in einen tiefen Abgrund. Da streckte er die Hand nach ihr aus. Ein eisiger Hauch streifte Mias Gesicht. Sie fuhr zurück, die Eiche knackte laut, scharfe Eissplitter brachen von ihrer Rinde. Er
verwandelt mich in Eis,
schoss es Mia durch den Kopf.
Er wird mich umbringen.
    »Nein!«, schrie sie, warf sich herum und rannte los. Sie hörte das Rauschen des Windes hinter sich. Rasend schnell kroch das Eis ihr nach. Steinsplitter flogen an ihr vorbei und scharfe Eisblätter trafen sie an der Schulter. Sie strauchelte und landete in einem Gebüsch, das klirrend zusammenbrach. Es zerschnitt ihr die Hände, aber sie achtete kaum darauf. Keuchend erreichte sie die Tür und stand Augenblicke später auf der Straße.
    Mit einem Schlag war der Sturm vorüber. Die Tür fiel leise hinter ihr zu. Zwei Passanten warfen ihr abschätzige Blicke zu. Mit rasendem Herzen betrachtete sie die geschlossene Tür.
Das
hatte sie nicht geträumt.
    Benommen wandte sie sich ab und lief die Straße hinunter. Es gab
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