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Greifenmagier 1 - Herr der Winde

Greifenmagier 1 - Herr der Winde

Titel: Greifenmagier 1 - Herr der Winde
Autoren: Neumeier Rachel
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besser mit der Kohle umgehen als Nehoen, aber darin lag der Unterschied nicht begründet. Vielmehr lag er darin, dass sie wusste, was sie zeichnete.
    Der Greif flog aus der Kohle hervor, aus Kes' Augen. Er war Adler und Löwe, aber nicht missgestaltet, nicht unstimmig wie Nehoens Greif. Kes verlieh ihrem Greifen die Schönheit, die sie erblickt hatte. Sie hatte Greifen im Flug gesehen, aber der, den sie zeichnete, nahm eine Sitzhaltung ein und hielt sich dabei ordentlich wie eine Katze. Er war ein wenig eingerollt und hielt den Kopf neugierig schief. Er wirkte wild, aber nicht bösartig. Das Gefieder rings um die Augen verlieh ihm eine kühne, strenge Erscheinung. Der scharfkantige Schnabel war elegant geschwungen und passte perfekt zum Adlerkopf. Das Gefieder floss zu den Vorderbeinen hinab und den Körper entlang, bis es elegant mit der muskulösen Hinterpartie des Löwen verschmolz. Die halb ausgebreiteten Schwingen durchzogen die Skizze mit der klaren Reinheit von Flammen.
    Tesme, die Kes über die Schulter blickte, atmete langsam ein und ließ die Luft wieder heraus.
    Nehoen nahm Kes die fertige Zeichnung ab und betrachtete sie wortlos. Die junge Frau hob den Blick nicht vom Tisch.
    »Wann hast du sie gesehen?«, fragte Nehoen freundlich.
    Kes warf einen Blick zu ihm hinauf und senkte ihn sogleich wieder. Sie fuhr mit der Hand nervös über die raue Tischfläche. »Heute Morgen.«
    Tesme starrte sie an. »Du hast gar nichts gesagt.«
    Kes tastete an der Maserung des Holzes unter ihrer Hand entlang und fuhr dann mit der Fingerspitze immer wieder um ein kleines Astloch. »Ich wusste nicht, wie ... wie ich von ihnen sprechen sollte. Sie ... sind nichts, wofür ich die passenden Worte hätte.«
    »Du ...«, rief Chiad ungläubig.
    »Still«, sagte Nellis und legte ihrem Gatten die Hand auf den Arm. »Kes, Liebes ...«
    Am Tor zum Innenhof der Gaststätte tauchte jemand auf, und alle - mit Ausnahme von Kes - fuhren hoch und blickten verwundert auf den Neuankömmling. Dann starrten sie ihn noch intensiver an.
    Der Mann am Tor war ein Fremder. Doch er war nicht nur einfach ein Fremder - er sah auch fremdartig aus. Er trug feine Kleidung, die jedoch in Schnitt und Farben ungewöhnlich war. Rote Seide, rotes Leinen, rotes Leder - alles rot, in einer dunklen Tönung wie die von trocknendem Blut, abgesehen von schwarzen Stiefeln mit geringer Schaftlänge und einem schwarzen Umhang. Er führte kein Schwert mit sich, obwohl dies sogar in Farabiand sonst nahezu alle Männer von Stand taten. Dieser Mann hatte jedoch nicht einmal einen Dolch im Gürtel stecken. Er führte kein Pferd am Zügel, was gewiss das Seltsamste von allem war; denn wie kam ein Herr von Stand nach Minasfurt, wenn nicht per Pferd oder Kutsche?
    Er hatte schwarze und sehr dichte Haare ohne eine Spur von grauen Strähnen - obwohl man irgendwie sofort bemerkte, dass er nicht mehr jung war. Die Linien in seinem Gesicht wirkten herb und tief. Die Augen waren schwarz, der Ausdruck darin machtvoll. Er hatte eine stolze Art an sich, als dächte er, dass ihm alles Land gehörte, worauf sein Blick fiel. Kes sah, dass sein Schatten nicht der eines Menschen war, sondern zu groß dafür und von unpassenden Umrissen, mit Feuer gefiedert. Seltsamerweise rief diese Wahrnehmung bei ihr keinerlei Erstaunen hervor. Kes blickte kurz ins Gesicht ihrer Schwester und dann auf Nehoen, Jerreid und Kanes, und ihr wurde sogleich eines klar: Zwar reagierten alle erschrocken auf den Fremden, aber niemand sonst bemerkte, dass sein Schatten der eines Greifen war.
    Der Fremde mit den schwarzen Augen und dem Schatten eines Greifen sagte nichts. Auch kein anderer sprach etwas, nicht einmal Jerreid, der alle Welt mochte und nicht leicht aus der Fassung zu bringen war. Alle starrten den Fremden an, aber dieser hatte nur Augen für Kes. Und anstatt das Wort zu ergreifen, schritt er weiter voran und näherte sich schnurstracks dem Tisch und dem Platz, wo sie saß. Eindeutig ging er davon aus, dass ihm alle den Weg freimachten. Und das taten auch alle, obschon Nehoen, der abrupt aufstand, Kes eine Hand auf die Schulter legte, als glaubte er, dass sie vielleicht Schutz brauchte.
    Der Fremde schenkte Nehoen keine Beachtung. Während er nach wie vor schwieg, hob er Kes' Zeichnung auf und betrachtete sie. Dann sah er Kes an.
    Sie erwiderte den Blick seiner Augen und stellte ohne Überraschung fest, dass sie voller Feuer waren. Kes holte Luft, und diese schien voller Hitze und Wüstenmagie zu sein.
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