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Grappa dreht durch

Grappa dreht durch

Titel: Grappa dreht durch
Autoren: Gabriela Wollenhaupt
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kupfernen Kerls wölbte sich ein strammer Hintern, während er die Geschlechtsteile unter dem Rücken trug. Die Skulptur hieß »Aufwärts«. Wohl ein Sinnbild für das engagierte Unternehmertum in Bierstadt.
    Der Fahrstuhl schwebte aus halber Höhe nach unten. Ich wollte ihn gerade besteigen, als mich der Pförtner ansprach. Er sei verpflichtet, jeden Besucher in ein Buch einzutragen. Warum nicht? Ohne zu überlegen, nannte ich ihm einen falschen Namen.
    Ich betrat den Lift und drückte auf die Nummer 18. Vornehm leise schloß sich die Fahrstuhltür, und ich schwebte - nur von Glas umrahmt - nach oben. In nur 18 Sekunden bis unters Dach, so hatte ich gelesen.
    Ich schloß die Augen, als die Autos unter mir immer kleiner wurden und mein Magen Flügel bekam.
    Oben angekommen, betrat ich zögernd den marmornen Boden. Und wurde schon wieder mit Kunst konfrontiert. Ein klei-
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ner Bruder des Herrn aus der Halle saß nachdenklich auf einem Stuhl und war in ein Buch vertieft. Seine Augen waren tot.
    »Hallo, Süßer!« sprach ich ihn an. Er regte sich nicht. Ich ließ ihn auch links liegen und schaute mich um. Die Sicht war atemberaubend. Zur Straße hin konnte man die gesamte Stadt überblicken, rückwärts fuhren Miniaturzüge in den Hauptbahnhof ein und rechts sah man einer Bierstädter Brauerei aufs große leuchtende »U«, dem Firmenzeichen. Die Sonne schien, und die Luft war so klar, daß ich kilometerweit sehen konnte. War dies der Blick aus dem Fenster meines Traumes gewesen? Ich wußte es nicht mehr. Wie es wohl ist, von hier oben in die Tiefe zu springen? fragte ich mich. Wie fühlt sich ein Springer, wenn auf halbem Weg die Gewißheit kommt, eine grundlegend falsche Entscheidung getroffen zu haben?
    Ich atmete ein paar Mal tief ein, überzeugte mich, daß ich allein war, und begann mit meiner Suche. Wie war es möglich aufs Dach zu kommen? Alles schien dicht. Ich überprüfte einige Türen in der Nähe des Fahrstuhls. Schwerer Stahl. Ich drückte die Klinken herunter, sie waren verschlossen.
    Ein zischendes Geräusch ließ mich erschrecken. Jemand holte sich den Fahrstuhl. Er schwebte leise nach unten und ließ mich allein. Ich hörte den Frühlingswind, der sich unter dem Dach verfing. Ein fremdes, unwirkliches Brausen.
    So kam ich nicht weiter. Unschlüssig ging ich einen Flur entlang und überprüfte die Firmenschilder an den weißen Türen. Moderne Dienstleistungsbetriebe tummelten sich hier oben: Druckereien, Fotolabors, Softwarefirmen.
    Eine der Türen öffnete sich plötzlich, und ein junger Mann quälte sich auf den Flur. Ich war erleichtert, hier oben jemanden zu sehen. Mit beiden Händen hielt er einen großen Pappkarton. Er fluchte leise, denn das Ding war schwer.
    Ich konnte noch nie mit ansehen, wenn Männer schwer tragen müssen. Ich griff zu.
    »Danke!« meinte er verblüfft. Wir schleppten den Karton in Richtung Aufzug.
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Der gläserne Korb surrte heran, war da, wir stiegen ein und setzten den Pappbehälter auf dem Boden ab.
    »Uff!« gab er bekannt. »Wollen Sie auch nach unten?«
    Ich widersprach nicht. »Arbeiten Sie hier oben?« fragte ich ihn, nachdem sich die Tür geschlossen hatte. Er blickte mich an, als hätte ich ihn aus wichtigen Gedanken gerissen.
    »Ich bin Chef des Computer-Print-Service!« enttarnte er sich und fügte stolz hinzu: »Das ist ein ganz neuer Betrieb für Text-und Bildverarbeitung. Fotos und Texte können wir in wenigen Minuten druckfertig und in höchster Qualität erstellen. Bis zum postfertigen Mailing.«
    »Das ist ja toll!« Ich strahlte ihn an, als hätte ich nur auf diese Enthüllung gewartet. Er war knapp über zwanzig, sah aus wie ein Schuljunge, trug einen Bürstenhaarschnitt, einen Anzug in einem frechen Grau und eine Krawatte mit kleinen Donald Ducks. Er war der Typ des cleveren Jungunternehmers, der das Wort »Arbeiter« nur aus Betriebswirtschaftsbüchern kennt und »Solidarität« für eine ansteckende Krankheit hält.
    Ich beschloß, den Dialog mit ihm auf das Wesentliche zu beschränken.
    »Wie kommt man eigentlich aufs Dach?« fragte ich.
    »Auf welches Dach?«
    »Auf das Dach dieses Hauses!«
    »Was wollen Sie denn da oben?«
    Er starrte mich an wie eine potentielle Selbstmörderin.
    »Meine Frage ist rein theoretisch«, stellte ich klar, »ich bin nicht schwindelfrei und froh, wenn ich wieder aus diesem Aufzug raus bin und festen Boden unter den Füßen habe.«
    Wir waren unten angekommen. Die Tür öffnete sich, um uns in das Foyer
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