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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter
Autoren: K Bohrer
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Heilige Erstkommunion empfangen sollte. Dabei machte der Pastor die Andeutung, aus dem Jungen könnte einmal ein Priester werden und, wer weiß, vielleicht noch etwas sehr viel Höheres. Seit diesem Tag war der Junge endgültig des Großvaters Favorit unter den Enkeln.
    Er war auf die Idee gekommen, im ausgebauten Speicher des großväterlichen Hauses eine Art Altar zu bauen und Messe zu spielen. Messe spielen hieß vor allem: erstens sich irgendwie Gewänder mit einschlägigen Farben zu beschaffen, in die eintauchend man alles Alltägliche abstreifte, und natürlich brauchte es einen Kelch mit Hostien. Zweitens: Andere Kinder der Umgebung sonntags zur Predigt einzuladen. Predigen und die Verteilung der Hostien behielt er sich selbst vor, ein Vetter sollte den Messdiener spielen und mit der Schelle klingeln. Aber wie das anstellen? Die fromme Großmutter durfte von all diesen Planungen nichts wissen, wohl aber ein Verwandter des Onkels. Dieser Verwandte gehörte zu einem sektenartigen Privatorden innerhalb der Kirche, zu jener Sorte fanatisch strenger Katholiken, die dem Papst ermahnende Briefe schrieben. Er war ein Mann, der morgens auf die Straße trat und vor vorbeikommenden Nonnen aufdringlich-unaufdringlich den Hut zog: ein »Beginengrüßer«. So nannten die Leute der Stadt jemanden, der eigentlich kein richtiger Mann war, sondern ein Frömmler. Sie sagten: »Dat is ne Bejigenjrößer.« Er war verheiratet, und deshalb schied die Möglichkeit aus, die einzig seiner frommen Begierde Erfüllung hätte bringen können, nämlich Priester zu werden. Dafür kam er eines Karfreitags ins großväterliche Haus und wusch den Kindern nach dem Vorbild Jesu die Füße. Dieser Halbonkel hörte mit Wohlwollen von dem Vorhaben des Jungen, sonntags die Messe nachzuspielen, und half, über seine kirchlichen Beziehungen, bei der Beschaffung täuschend echter Gewänder in der richtigen Größe. Er hatte auch immer am 6. Dezember den Nikolaus gespielt, nicht als Weihnachtsmann mit Kapuze und Sack, sondern in der Maske eines richtigen Bischofs!
    Schließlich war es soweit: Der Altar war fertig, die Gewänder lagen bereit, und zehn Kinder kamen am auserwählten Sonntag in den Speicher. Man würde ein besonderes Spiel spielen, wurde der Großmutter gesagt, die Nachbarskinder in Haus, Keller und Garten gewohnt war. Als alle Kinder auf dem Boden saßen, dann aber auf sein Geheiß – er trug ein mit einem leuchtenden goldenen Kreuz bedecktes weißes Gewand – knien mussten, vollzog sich das Schauspiel eines neunjährigen Priesters, der mit ausgebreiteten Händen vor einem echten Messkrug unverständliche Worte murmelte, während der kleinere Vetter im Weißrot des Messdieners das Messbuch von Zeit zu Zeit auf die jeweils andere Seite trug. Er kannte nicht den liturgisch vorgeschriebenen Ablauf, sondern imitierte alles, was ihm spontan einfiel. Den Höhepunkt bildete natürlich der Augenblick der Eucharistie, der Heiligen Wandlung, denn hier konnte der kleine Vetter zeigen, wie er gelernt hatte, rhythmisch mit der Klingel umzugehen – kniend, während er selbst im leuchtenden Priestergewand stehend die Hostie demonstrierte und alle Kinder das Kreuzzeichen schlugen. Dann kam es zur Einnahme von Brot und Wein. Alle Kinder hatten auf Geheiß einzeln nach vorne zu kommen und die Zunge herauszustrecken, auf die er dann die echte Oblate legte, die ihm der frömmelnde Halbonkel beschafft hatte. Statt Wein gab es Wasser.
    Das war die Aktion. Sie war aber nicht das Wichtigste, so sehr sie ihn packte. Das Wichtigste war die Predigt. Sie erfolgte zu dem Zeitpunkt, an dem sie auch beim richtigen Hochamt stattfand: vor der Wandlung. Als Kanzel dienten zwei zusammengestellte hohe Stühle, deren lederne Rückseite geschlossen war, sodass der junge Prediger wirklich nur von der Brust an sichtbar war. Der Inhalt der Predigt schwankte zwischen den Jesusgeschichten aus der Kinderandacht und willkürlichen Einfällen darüber, wie Gott die Welt erschaffen hatte. Diese Erzählung aus dem Alten Testament hatte es ihm nicht nur wegen der ozeanischen Größenordnung angetan, sondern wegen der bewegenden Redeweise Gottes, der einfach nur sprechen musste, auf dass etwas geschah. Irgendwie wusste er das nachzuahmen und mit entsprechenden Handbewegungen zu unterstreichen, wobei dann die gestickte Borte des priesterlichen Gewandes dem jungen Prediger über die Hände fiel. Er kümmerte sich nicht sonderlich darum, ob die Kinder zu seinen Füßen dem folgten, was
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