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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter
Autoren: K Bohrer
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ihn wechselseitig jedem Neuankömmling vor, meist nur mit dem Vornamen, manchmal aber auch mit ganzem Namen. Wovon das abhing, war ihm nicht ganz klar. Jedenfalls war die Leichtigkeit des Miteinanders aller das Gegenteil von dem, was er sich von Engländern bisher vorgestellt hatte. Hier lag auch seine Schwierigkeit. Er hatte inzwischen begriffen, dass keine allzu ernsten Themen gefragt waren. Er wusste ohnehin, dass ihm kaum ein wirklich nennenswerter Satz zu Gebote stand.
    Dann erschien Laurence Olivier! Er erkannte ihn sofort. Nicht etwa, weil die anderen ihm ehrfürchtig Platz gemacht hätten, auch nicht, weil er ungemein eindrucksvoll ausgesehen hätte. Es war das Lächeln, nur das Lächeln. Unmerklich, aber wiedererkennbar aus den beiden Filmen. Dieses halb melancholische, halb spöttische Lächeln. Das Lächeln Heinrich des V., wenn er aufsteht von seinem Thron und im Beisein der französischen Gesandten dem französischen König den Krieg erklärt. Das Lächeln Hamlets, wenn er mit Rosencrantz und Güldenstern spricht. Aber gleichzeitig, jedenfalls an diesem Abend, war auch etwas erstaunlich Schüchternes im Ausdruck. Ihm fiel auf, dass manche Gäste seinen Familiennamen nicht mit der französischen Endbetonung aussprachen, sondern mit der schlichten angelsächsischen. Sie ließen das letzte I im Namen einfach weg: Oliver wie Oliver Cromwell. Irgendwie passte das ja auch.
    Natürlich wurde er bald dem berühmten Schauspieler vorgestellt. Mit allen möglichst ansehnlichen Erklärungen, deutscher Student, angeblich der Philosophie, Theatergänger und Schauspielschüler und Bewunderer des Ehrengastes. Nachdem Olivier wieder gelächelt hatte, war eigentlich er an der Reihe. Er machte nur eine Handbewegung, die seine sprachliche Hilflosigkeit andeuten sollte und brachte einen Satz heraus wie: »Yes, I like you very much.« Diesen aus Unfähigkeit kommenden, unklaren Satz hätte er sich für immer zu eigen machen sollen, so gut gefiel er dem großen Mann. Es war kein Schade gewesen, dass er mit ihm nicht hatte sprechen können. Was hätte er, der in allem so Unerfahrene, diesem großen Künstler denn gesagt, wenn er der Sprache mächtig gewesen wäre? Dass er ihn bewundere? Das hatten ihm schon so viele gesagt. Dass er den sinnlichen Stil dem bloß literarischen vorziehe? Das wäre schon ein Zuviel des Bekenntnisses gewesen. Nein, es war besser so, wie es war. Er hatte ihn gesehen und ihm die Hand gegeben und gelächelt.
    Zwei Tage später war die Zeit in Drayton Gardens zu Ende. Guy und Julian sagten, sie würden ihn im Sommer in Göttingen besuchen kommen, denn sie führen wieder zu den Musikfestspielen nach Herrenhausen. Es war die zweite Dezemberwoche 1953. Auf dem Schiff, wieder an der Reling stehend, blickte er zurück, bis die Küstenlinie verschwunden war. In ihm kam der Gedanke auf, dass es nicht die Küste war, die verschwand. Die würde ja daliegen wie immer, auch wenn er sie nicht mehr sah. Was endgültig verschwand, waren seine englischen Tage. Daran änderte die Erinnerung nichts. Nein, die Erinnerung änderte das Verschwinden nicht. Dass etwas für immer endgültig verschwindet, nicht als Ort, aber als Zeit, das empfand er in diesem Augenblick zum ersten Mal.

Postscriptum:
Dies ist nicht Teil einer Autobiographie, sondern Phantasie einer Jugend. Der Erzähler sagt nicht das, was er über seinen Helden weiß, sondern das, was sein Held selbst wissen und denken kann – je nach seinen Jahren. Die Neugier des Lesers wird auch nicht durch eine biographische Identifizierung der übrigen Charaktere und Schauplätze befriedigt, sondern ausschließlich durch die Darstellung der Atmosphäre und der Gedanken einer vergangenen Zeit.

Karl Heinz Bohrer
    Karl Heinz Bohrer, 1932 in Köln geboren, ist Professor emeritus für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Bielefeld und seit 2003 Visiting Professor an der Stanford University. Seit 1984 ist er Herausgeber des MERKUR. Er lebt in London. Im Carl Hanser Verlag erschien zuletzt: Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken (EA, 2011).
     

Daten, Fakten, Jahreszahlen
    1932 in Köln geboren
1968–1974 Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
    Ab 1975 als Korrespondent der FAZ in England
    1978 Habilitation an der Universität Bielefeld
    1982 auf den Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Bielefeld berufen
    1984–2011 Herausgeber des Merkur (seit 1991 gemeinsam mit Kurt Scheel)
    1997 in Bielefeld
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