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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter
Autoren: K Bohrer
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explodierten, wenn sie ihr Ziel, die englischen Flugzeuge, nicht trafen. So ein Stück scharfes Metall in die Hand zu nehmen war genauso, wie wenn man das Wort »Krieg« hörte. Es war das erste Bild des Kriegs für ihn. Er hatte das Wort »Krieg« zum ersten Mal aus seinem liebsten Märchenbuch von früher mit dem Titel Schlierilei gehört. Das war die Geschichte einer kleinen Waldschnecke mit einem Schneckenhaus auf dem Rücken, die mit den Pilzen aneinandergerät und vor deren angsteinflößendes Strafgericht geladen wird. Das farbige Bild davon war so dramatisch, dass er es immer wieder anschauen musste. Ein Krieg aller kleinen Waldtiere gegen die Pilze. Mäuse, Frösche, Bienen, verschiedene Käferarten und selbst Vögel griffen die Pilze an. Das Bild dazu zeigte ein erschreckendes Durcheinander von kopflosen, zerspaltenen, zertrümmerten Pilzen. Krieg war also etwas Grausames.
    Ungefähr ein Jahr zuvor hatte er das Wort wiedergehört, während eines Gesprächs des Vaters mit dessen Bruder. Sie hatten in einem so nachdrücklichen Ton gesprochen, als ob etwas bisher noch nicht Bekanntes, Gefährliches bevorstehe. Zuerst hatte er sich Krieg so vorgestellt, dass sich zwei feindliche Parteien in einer Halle gegenüberstehen und aufeinander schießen, bis der eine Teil weniger an Zahl als der andere hätte. Das Ganze nicht in einer Landschaft, sondern in einer riesigen Halle aus Blech. Jetzt war von vielen Bomben die Rede, die auf die Stadt fallen würden. Es gab auch Nächte, in denen es auf der Straße plötzlich dunkel wurde, weil man die Laternen und die öffentlichen Beleuchtungen abgestellt hatte und in der ganzen Stadt die Fenster der Wohnungen verhangen wurden. Jetzt durfte kein Lichtschein mehr nach draußen dringen. Eines Morgens, als er zum ersten oder zum zweiten Mal in die Schule ging, erblickte er Leute mit von Masken verdeckten Gesichtern, die wie Schweinerüssel aussahen. Er hörte das Wort »Gas«. Was es wirklich damit auf sich hatte, wurde auch nicht ganz klar, als er mit Schulkameraden darüber sprach. Man könnte ersticken, wenn man diese Maske nicht trüge und die englischen Flieger Gasbomben abwürfen. Das alles bedeutete das Wort »Krieg«. Es war also Krieg.
    Er hatte dieses Wort dann noch einmal gehört, als er mit der Mutter und deren Freundin in den letzten Augusttagen die Ferien auf einer Nordseeinsel verbrachte. Das Wort hatte sofort wieder einen ganz besonderen Klang, weil es mit einem anderen Wort, dem Wort »England« verknüpft war. Das prägte sich ihm deshalb so ein, weil im Nachbarstrandkorb eine sehr freundliche Familie mit einem Jungen saß, der ungefähr so alt war wie er selbst. Die Sprache, die sie sprachen, war unverständlich. Manchmal aber doch so, dass er sie auch verstehen konnte. Die Mutter sagte ihm, es seien Engländer. Der Satz, dass sie Engländer seien, klang so, als wenn sie etwas ganz anderes wären als er selbst und die Mutter. Das Wort hatte ja keinen besonderen Sinn, es klang zuerst nur so. Es war der Klang des Wortes, der sich ihm einprägte: Engländer – England. Außerdem hatte der fremde Junge eine kleine Fahne mit einem sehr schönen Muster aus den Farben blau, rot und weiß, die zwei gekreuzte Kreuze trennten. Die Fahne hatte eine aufregende Wirkung auf ihn ausgeübt. Es war schwer zu sagen, warum: etwas Unruhiges und gleichzeitig sehr Ruhiges. Jedenfalls stießen ihm die eindrücklich wirkende Farbe und die Kreuzformen wie ein Zeichen von etwas in die Augen. Die ganze Zeit danach, vor allem seitdem die englischen Flieger nachts über der Stadt flogen, dachte er an die schöne Fahne und das Wort »England«.
    Die englische Familie war plötzlich nicht mehr in ihren Strandkorb gekommen, und er ging ohne den englischen Jungen allein auf Muschelsuche. Dass sie nicht richtig miteinander reden konnten, hatte sein Gefühl, etwas ganz Besonderes zu erleben, nur noch mehr angeregt. Er hatte den Namen des neuen Spielkameraden richtig auszusprechen gelernt: »Harry«. Manchmal hatten sie sich weit entfernt von den Eltern und der Mutter, vorbei an vielen Sandburgen, die mit Mustern aus Muscheln bedeckt waren, so weit, bis sie es merkten und sich das Gefühl, sie seien auf einer Entdeckungsreise, noch mehr verstärkte. Denn dazu musste man ja nur bei Ebbe den unbekannten riesigen Strand entlang bis zur Wasserlinie hin laufen, die aus der Entfernung wie ein Horizont zu anderen blauen Räumen aussah. Sie kamen an den gallertartigen, blauweißen Quallen vorbei, die
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