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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter
Autoren: K Bohrer
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aus kleinen Holzhäusern, die im Schulhof aufgestellt waren, mit Platzpatronen schossen, während deutsche Soldaten in ihren regelrechten Uniformen diese Häuser umzingelten und am Ende die Heckenschützen mit erhobenen Händen aus den Häusern herauskamen. Sie wurden zusammengetrieben und dann an einem Galgen, den man im Hof aufgestellt hatte, aufgehängt. Mit einem Strick um den Hals wurden die Polacken am Balken hochgezogen, und die Zuschauer klatschten und lachten. Hochgezogen wurden natürlich nicht die als Polen verkleideten deutschen Soldaten, sondern große Puppen aus Stoff und Stroh, die ihrerseits wieder zivile Kleidungsstücke und Kappen trugen.
    Die seltsamen Anzüge sahen besonders minderwertig aus. Hier die bekannten, irgendwie anheimelnden deutschen Uniformen, und da die zerlumpten Kleiderpuppen. Waren das Verbrecher? Man musste sie gewiss gefangen nehmen, aber dieses langsame Aufhängen, eine Puppe nach der anderen? Er fand das Ganze unheimlich, er verstand nicht, warum die Leute lachten. Er hätte seinen Vater gefragt, warum dieses Kriegsspiel auf dem Schulhof gespielt worden war, das mit den Platzpatronengewehren so wirklich erschien, aber der Vater war ja seit einiger Zeit nicht mehr zu Hause, und die Mutter verstand von so etwas nichts, sie war zu jung und zu desinteressiert an seinen Fragen. Mit den Granatsplittern hatte das nichts mehr zu tun. Sie waren wie farbige Sterne vom Himmel gefallen, und ihre leuchtende Schönheit gehörte zu den ersten blendenden Erscheinungen, aus denen für ihn das Leben bestand. Erscheinungen, deren tieferen Sinn er erst allmählich verstand. Es gab Vorkommnisse, Geräusche, die entweder auffielen oder auch nicht. Das einprägsamste Geräusch war gewiss die nächtliche Sirene.
    Einmal, als er von ihrem Aufheulen geweckt wurde und die Mutter nicht ins Zimmer kam, stand er auf und sah, dass die Wohnung leer war. Das Schlafzimmer der Eltern war unberührt, die schimmernde Seide der Steppdecke auf dem Bett war nicht aufgeschlagen, nur die Platte auf dem Grammophon neben dem Bett zeigte an, dass die Mutter kürzlich noch hier gewesen war. Als der Donner wieder einsetzte, dachte er an die Granatsplitter am nächsten Morgen, aber dann, als die Mutter nicht zurückkam, wusste er, dass er für eine Zeit allein sein würde, und er setzte sich auf die Steppdecke, die Sammlung der Granatsplitter neben sich, ausgelegt gegen seine Angst. Die Granatsplitter waren ein Mittel gegen alle Unbill des täglichen Lebens geworden. Sie hatten den Schein des Fremdartigen nicht aufgegeben. Sie strömten eine Atmosphäre des Wunderbaren aus, aus der man Stärke beziehen konnte: ein Geheimzeichen, das die Jungen erfanden, um ihrer Welt einen eigenen Namen zu geben.
    Sehr viel später wusste er, dass die Mutter bei einem jungen Mann gewesen war, bei einem Offizier in schöner graugrüner Uniform. Es gab damals einen Schlager, den alle Jungen in der Schule kannten und über den die Älteren lachten: »Titeriti, Titeriti, meine Mutter kriegt ein Titti, von einem Flaksoldaten, das darf ich nicht verraten.«
    Als die Mutter spät in der Nacht in ihr Schlafzimmer kam, war sie ihm absolut fremd. Sie hatte sich eben noch im Spiegel des fremden Mannes betrachtet: eine wirkliche Schönheit, die Dauerwelle, der blutrote Lippenstift und der Nerz um den fünfundzwanzigjährigen feinen Hals, das Jackenkleid. Nicht viele deutsche Mütter – die meisten liebten den schweren Knoten, waren ungeschminkt und irgendwie kräftig – sahen so aus. Der Vater war auch kein Vater wie die anderen Väter. Er war oft und lange im Ausland gewesen. Schon als Primaner, während seine Eltern auf Ferienreise an der Mosel oder an der Nordsee waren, hatte er sich vom Dienstmädchen das Wochengeld geben lassen, um damit nach Paris zu fahren und die berühmte Tänzerin Josephine Baker zu sehen. Diese Auslandsaufenthalte hatten sich während des Studiums des Vaters in den zwanziger Jahren gehäuft. Er sprach die Sprachen dieser Länder allmählich fließend, und einige der besten Freunde kamen von dorther. Auch das Studienfach Nationalökonomie verstärkte das Interesse, über die Grenzen zu sehen.
    Eines Nachts war einer dieser Freunde gekommen und hatte sich im Elternhaus des Vaters versteckt, bis dieser ihn mit dem Auto über die nahe Grenze im Westen brachte, dort, wo man durch dichte Wälder unbemerkt in das andere Land hinübergehen konnte. Der Vater war damals zu einer Person geworden, von der eine wunderbare Festigkeit
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