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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter
Autoren: K Bohrer
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ausging, im Gegensatz zu seiner eleganten Mutter. Zwar zeigte auch der Vater weltläufige Züge – er tanzte gerne Tango und ging in moderner Kluft in die Seebäder –, aber er verkörperte für den Jungen eine Sicherheit, die er nicht genauer benennen konnte, die ihn aber ein absolutes Vertrauen in die Welt entwickeln ließ, ein Vertrauen, das von der Mutter nicht ausging.
    Als er mit seinen Granatsplittern auf dem Bett wartete – inzwischen hatten die Entwarnungssirenen ihren langen gleichmäßigen Ton hören lassen –, hoffte er, dass der Vater kommen würde. Aber er kam nicht in dieser Nacht. Als die Mutter den Jungen sah, der sie so fremd anschaute, wurde sie unruhig: Sie sei sofort, als die Sirenen anschlugen, aufgebrochen, aber der Wagen der Freundin sei nicht sofort angesprungen. Im übrigen solle er die Granatsplitter nicht so einfach auf der Steppdecke herumstreuen, die scharfen Ränder würden sie aufreißen. »Hier, siehst du das nicht?« Nein, die Mutter gehörte nicht dazu. Nicht mehr. Sie hatte keine Ahnung von Granatsplittern, was sie waren, wie sie entstanden. Sie sah nicht ihre Schönheit. »Sie sind schön.« – »Was ist schon schön daran?« – »Die Farben sind so schön.« – »Schön?« – »Ja. Schön.« Er hatte keine genauen Worte dafür, was das besonders Schöne daran war: vielleicht, dass sie vom Himmel gefallen waren. Aber wenn er das gesagt hätte, hätte das die Mutter noch weniger verstanden. Am liebsten hätte sie gesagt, er solle die Splitter in den Müll schmeißen; jedenfalls aus der Wohnung entfernen. Er spürte, dass sie das wollte, aber in diesem Moment nicht sagte, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte. Sie fragte ihn, warum er die Dinger sammle, woher er sie habe, und dann kam es doch zu einem heftigen Streit. Sie meinte, die Splitter könnten giftig sein oder etwas Explosives enthalten. Nun war es tatsächlich so, dass die älteren Jungen, die nicht Granatsplitter sammelten, in ihren Verstecken, wo es die blauen Stahlhelme gab und fremde Uniformstücke, auch scharfe Munition hatten, die ebenfalls schön aussah. Es gab Jungen, die hatten ganze Maschinengewehrgurte: eine goldene Patrone mit spitzem Kopf neben der anderen. Weiß der Teufel, wie sie daran gekommen waren, wo doch die Kasernen streng bewacht wurden. Die Größeren sprachen, wenn sie die Munition zeigten, in einer Weise daher, als wenn sie selbst schon Soldaten wären. Sie gaben sich hart. Es waren diejenigen, die die Formen der Stukas und Messerschmitts auf die Tafel kritzelten und dabei deren Technik erklärten. Besonders die heulenden Angriffssirenen der kopfüber niedergehenden Stukas wurden in den Klassenräumen jeden Tag nachgeahmt, ein Triumphgeschrei, das dem Jungen zu laut war.
    Die Granatsplitter hatten damit nichts zu tun. Sie waren das, was übriggeblieben war von einer Waffe, nachdem diese selbst zerstört war. Er musste der Mutter erklären, wieso die Flakgranaten explodierten und in Splitter zerfielen: Wenn die Flakgranaten kein Flugzeug treffen würden, dürften sie nicht einfach wieder herunterfallen. Deshalb brächte ein Zünder diejenigen, die ihr Ziel verfehlten – und das waren die meisten –, zur Explosion. Aber wieso würde die Bevölkerung denn nicht gewarnt vor den herunterfallenden Splittern? Dem Jungen waren all diese Fragen nicht wichtig. Sie hatten nichts mit ihm und den Granatsplittern zu tun. Schließlich durfte er sie behalten und hütete sie als einen Schatz, von dem geheime Kräfte ausgingen.
    Der Grund, warum der Vater in jener Nacht und auch die Tage danach nicht kam, war nicht bloß eine Verwundung an der Front, sondern dass er sich von der Mutter hatte scheiden lassen. Eines Morgens sagte sie zum Briefträger, der ein offizielles Schreiben brachte: »Der Brief ist nicht für mich. Ich bin geschieden.« Das war Monate nach der allein verbrachten Nacht auf der Steppdecke mit den Granatsplittern, und der Junge verstand, dass der Vater nicht mehr zurückkommen würde. Warum hatten sich seine Eltern getrennt? Bevor die Leere der Wohnung zuviel für ihn wurde, hatte ihn die Mutter zu den Großeltern in die westliche Vorstadt gebracht. Die Großmutter war das Gegenteil ihrer Tochter, einfach und fromm. Sie hatte Nonne werden wollen und setzte sich in die Badewanne mit einem Überkleid aus grauem Stoff, weil es sündig war, den eigenen Körper zu betrachten. Der Großvater war ebenfalls ein guter Katholik, aber ansonsten ein sehr weltlicher Mann, gutaussehend und eitel wie
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