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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter
Autoren: K Bohrer
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ein Pfau, der die Hälfte des Morgens eine Ledermaske trug, um seinen täglich neu arrangierten Bart zu festigen. Wenn er ausging, trug er manchmal einen schwarzen Hut mit einer roten Feder. Die Großeltern liebten den Jungen sehr, und er fühlte sich in dem kleinen Haus geborgen, anders als in der großen Wohnung der Mutter mit den eleganten Melodien aus dem Grammophon.
    Das lag auch daran, dass das Haus der Großeltern ihn an ein anderes Märchenbuch erinnerte, das Das alte Haus hieß. Es erzählte von seltsamen Vorgängen und wunderbaren Gestalten, die alle in diesem alten Haus vom Speicher bis zum Keller wohnten. Es erzählte vom Uhrenmännchen in der alten Uhr, vom Nussknacker und dem Zwerg im Kohlenkasten. Und vom guten Kartoffelkönig aus der großen Kiste Kartoffeln im Keller. Das Buch vom alten Haus hatte die Großmutter ihm und dem Vetter schon vor dem Kriege vorgelesen. Und dabei hatte er das wunderbare Empfinden, dass alles, was da vorkam, sich jetzt im alten Haus der Großeltern wiederhole. Seitdem war das Haus der Großeltern noch schöner, noch herzlicher, noch willkommener geworden. Es war das älteste Haus aller alten Häuser, und im Garten standen Kirsch- und Birnbäume. Es konnte ihm kein größeres Glück geschehen als fortan bei den Großeltern im altem Haus zu wohnen, auch wenn er nun nicht mehr dachte, im Uhrenkasten wohne das Uhrenmännchen.
    Inzwischen kam der Donner in den Nächten nicht mehr bloß von den Geschützen, sondern von explodierenden Bomben im Stadtzentrum. Man blieb nicht mehr im Bett, sondern ging mit vorher zurechtgelegten Kleidern in den Keller, die Großmutter, die Tante und deren kleine Kinder und eine Nachbarin, die sich in diesem Keller sicherer fühlte. Der Großvater blieb oben: Die Engländer seien zu allem Ernsten und Wichtigen unfähig, und deshalb auch unfähig, dieses Haus zu treffen. Er hasste sie, denn er war irischer Herkunft. Die Großmutter hatte er auf einer Kirmes in den Niederlanden getroffen, sich in sie verliebt und war – ihr folgend – vor über dreißig Jahren hier hängengeblieben. Der Großvater war nicht bloß eitel, er war auch jähzornig. Es gab das Gerücht, er habe als junger Mann, als er im Glockengerüst des Doms zu arbeiten hatte, einen sozialistischen Arbeiter mit dem Hammer bedroht, er solle zur Heiligen Jungfrau beten, und sei deshalb zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt worden.
    Während der Großvater die Engländer, die ihn nicht treffen würden, verachtete, saßen die Frauen im Keller und beteten den Rosenkranz. Ab und zu kam der Großvater herunter und berichtete mit wichtiger Miene über den Stand der Dinge: Die Stadt brenne im Zentrum, aber auch der Süden habe viel abgekriegt. Und weil die Engländer nicht treffen könnten, schmissen sie einfach ziellos alles über der Stadt ab.
    Man konnte nichts weiter tun, darüber war man sich einig. Der Großvater, das war immerhin beruhigend, hatte keine Angst. Der Junge war inzwischen neun und hatte vom Tode noch immer keine Vorstellung. Er hatte inzwischen eine Jungenbande gegründet, die sich in halbgefährlichen Spielen hervortat: Man stahl Obst in den zahlreichen Gärten des Viertels oder Briketts aus den Eisenbahnwagen auf den Dämmen am Rande der Stadt, wo es zur Westgrenze ging. Manchmal schlug man sich mit Zigeunerjungen, die am Bahndamm hausten. Einige Jungen trugen Stahlhelme, deutsche, belgische, englische, auch polnische und französische – und fühlten sich wichtig.
    Um sich aber auch irgendwie nützlich zu machen, sammelten die Jungen in bestimmten Vorgärten Säcke voll Grünfutter, besonders Klee, denn seit einiger Zeit hielten die Großeltern Kaninchen. Dass die auch irgendwann geschlachtet wurden, dass ihr einziger Daseinszweck darin bestand, die Einschränkungen der Kriegsernährung auszugleichen, das war eigentlich keinem der Bandenmitglieder bewusst. Sie waren einzig und allein darauf konzentriert, von den Besitzern der Vorgärten nicht erwischt zu werden, auch wenn es sich nur um einen älteren Hausmeister handelte. Gerade die konnten ziemlich rabiat werden. Es war ein Abenteuer, die Gräser in einer vom Haus der Großeltern entfernteren Gegend zu finden, in dem Viertel, wo die Stadt nach Westen hin aufhörte und das freie Land mit den Eisenbahngleisen begann. Dort waren sie auch auf die Zigeunerjungen gestoßen. Weil diese Messer hatten, war es schon eine Sache des Mutes, sich auf sie einzulassen. Es blieb aber gar nichts anderes übrig. Hätte er gekniffen,
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