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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter
Autoren: K Bohrer
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noch viel länger miteinander reden können, ohne wieder über Shakespeare zu streiten? Es war ein überaus herzlicher Abschied, und das Versprechen, Karten aus Köln zu schicken, machte den Abschied nicht endgültig.
    Auf der Busfahrt zurück nach London las er in T. S. Eliots Murder in the Cathedral , das er sich in London in dem alten Antiquariat an der Charing Cross Road gekauft hatte. Das richtige Buch für die Fahrt zurück durch das Novembergrau von Kent in die Hauptstadt. Er verstand schon vieles, auch wenn es beim Lesen nur langsam vorwärts ging und er immer wieder im Wörterbuch nachschlagen musste. Er träumte sich in die englische Vergangenheit hinein, was bei der Fahrt durch den Nebel, an alten Eichen vorbei, nicht schwierig war. Es war klar, dass er nur ein paar Seiten bis London gelesen haben würde. Aber er bekam etwas von der Atmosphäre mit.
    Er hatte nur noch vierzehn Tage vor sich, dann musste er zurück, sollte das Semester an der Heimatuniversität nicht völlig aufgegeben werden. Nach Göttingen, das war entschieden, würde er erst im Frühjahr 1954 gehen. Guy und Julian wollten ihm zum Abschied eine regelrechte Party geben, und als Überraschungsgast hatten sie Laurence Olivier eingeladen. Was für eine fast beängstigende Aussicht!
    Er durchstreifte in den letzten Tagen Central London wieder zu Fuß. Dabei stieß er auf ein Kino, vor dessen Filmreklame er sofort stehen blieb: »Richard Burton« stand da in großen Lettern. Der Film hieß The Desert Rats . Es gab kein Zögern, das musste er sehen. Burton spielte einen englischen Leutnant, der sich bei der Verteidigung der Festung Tobruk gegen Rommels Afrikacorps bravourös auszeichnet. Rommel wurde wieder von James Mason gespielt. Er hatte diesen Schauspieler schon in den Ferien als »Wüstenfuchs« gesehen. Diesmal sah sein Rommel aber sehr viel sinistrer aus. Überhaupt kamen die Deutschen diesmal nicht so gut weg! Das ärgerte ihn. Es war ja seine Thematik in der Zeit gegen Kriegsende gewesen: die Tapferkeit der deutschen Soldaten! Er hatte in den Jahren danach nicht mehr viel daran gedacht. Aber jetzt stieß ihm das wieder auf, ausgerechnet hier in London. Im gleichen Kino gab es am nächsten Tag noch einen anderen Kriegsfilm, einen amerikanischen mit dem Titel Sands of Iwo Jima . Da ging es um den blutigen Kampf zwischen Amerikanern und Japanern. Ob die Amerikaner wirklich so heroisch gewesen waren, wie John Wayne es vorführte? Er bezweifelte es. Es passte ihm nicht. Er verstand von den Dialogen kein einziges Wort, aber das Ganze genügte ihm, um sich wieder zu sagen: Die haben den Krieg nur wegen ihrer Übermacht gewonnen. Merkwürdig, dass er sich das sagte, obwohl er doch genau wusste, was damals geschehen war. Vielleicht deshalb, weil er einen Rest von Achtung gegenüber dem eigenen Land behalten wollte?
    Er ging jetzt mehrfach mittags in den Reform Club, vor allem wegen der Bibliothek, in der er außer den schon beim ersten Mal entdeckten Büchern über das britische Empire, zum Teil wunderbar bebildert, auch literarische Zeitschriften fand. Ihm fiel auf, wie hoch das Wort »Kritik« gehalten wurde und wie oft Ezra Pound und James Joyce erwähnt wurden. Vor allem Ezra Pound, der zu dieser Zeit in einer italienischen Klinik lebte. Scrutiny und Horizon hießen die beiden Zeitschriften, und einer der wichtigsten Beiträger war ein gewisser Cyril Conolly, der Herausgeber von Horizon . Seine Beiträge vermittelten ihm die Einsicht, dass Kritik das neue Stichwort war. Kritik schien fast wichtiger als die Literatur selbst. Nicht bloß Literaturkritik, sondern Kritik der Zeit. Dass die beiden Zeitschriften gegensätzliche Auffassungen vertraten – Scrutiny eine klassisch-traditionelle, Horizon eine kritisch-aktuelle –, machte die mühsame Lektüre noch spannender. Jedenfalls wusste er jetzt: Kritik ist das Entscheidende für die Zukunft des Denkens. Und noch etwas: Kritik und Parlament hatten etwas Gemeinsames. Beide waren Ausdrucksformen der Epoche, in der man lebte. Man musste also einen Sinn für Formen haben.
    Beim Herumlesen in der Wochenzeitschrift Spectator stieß er dann auf zwei Schriftsteller, von denen er noch nichts gehört hatte. Der eine war Anthony Powell, der schon vor dem Krieg durch satirische Romane bekannt geworden war, aber jetzt erst offenbar mit einem ehrgeizigeren Thema begonnen hatte, dessen erster Teil A Question of Upbringing gerade erschienen war. Das Ganze sollte heißen A Dance to the Music of Time . Der
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