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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter
Autoren: K Bohrer
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Nazischwulst.
    Auf dem Rückweg nach South Kensington und Drayton Gardens, den er wieder zu Fuß machte, kaufte er sich in Fleet Street die berühmteste englische Zeitung, die Times . Nicht weil er in der Times viel lesen konnte, sondern um sie einmal in den Händen zu haben. Die erste Seite bestand nur aus Anzeigen, Familien- und Geschäftsangelegenheiten, fein und klein gedruckt. Die waren offenbar nur für Leser aus höheren Gesellschaftsschichten interessant. Auch auf der nächsten Seite gab es keine Bilder, und die Überschriften waren sehr zurückhaltend. Gott sei Dank hatte er, bevor er ins Internat kam, in der Quinta ja etwas Englisch auf der Schule gelernt. Er hatte eine Ahnung davon behalten, einige Grundregeln der Aussprache, das berühmte »th«, aber auch die Kenntnis einiger Verben, die ja so ähnlich wie im Deutschen waren. Die Wörter für sehen, sprechen, laufen, essen, aber auch für Schiff, See, Wind, Haus, Feuer. Eigentlich erstaunlich, wie viel Grundwörter ähnlich oder sogar gleich waren und wie wenig man verstand, wenn Engländer sie aussprachen. Das wurde ihm unüberhörbar vorgeführt, als er in Fleet Street in einem ungeheuer gemütlichen Fachwerkhaus Fisch essen ging. Nicht Fish ’n’ Chips, sondern eine riesige Dover Sole mit Salzkartoffeln.
    Er sollte schon um 19.30 Uhr zum Dinner in Drayton Gardens zurücksein. Eigentlich wollte er einen Bus nehmen, traute sich aber nicht, weil er fürchtete, an der falschen Stelle auszusteigen und die Richtung zu verlieren. Also ging er wieder zu Fuß. Dabei fiel ihm etwas fast Unheimliches auf: Die Zeichen für die Londoner Untergrundbahn! Die rot im Dunkeln glühende düstere Kokarde erinnerte ihn an die Abzeichen der englischen Bomber im Krieg. Und so wurde der ganze Rückweg zu einer Wiederholung der mächtigen Eindrücke des Vormittags: Eine Stadt wie London hatte er noch nie gesehen. Dabei war er noch nicht einmal an den Docks gewesen, von wo ein Teil des britischen Handels in alle Welt ging oder, wie er nun wusste, gegangen war. Aber er hatte doch einiges gesehen. So etwas gab es wohl nicht noch einmal auf der Welt. Aus der Heimat kannte er nur die Vaterstadt am Rhein. So groß ihm die auch vorgekommen war, wenn er in den Ferien aus der altgriechischen Landschaft zurückkehrte, im Vergleich zu dem, was er hier erblickte, war sie ein zerstörtes Nichts.
    Noch etwas fiel ihm auf: Die Straßennamen oder Viertel klangen zum Teil gar nicht englisch. Woher kam zum Beispiel Piccadilly? Oder Pimlico? Er hatte eigentlich auch keine historischen Straßennamen gesehen oder Plätze wie zu Hause, die etwa Chlodwigplatz hießen. Einen Alfred-den-Großen-Platz gab es hier auch nicht, auch keinen Sachsen-Ring. Das hätte wegen der englischen Geschichte doch nahe gelegen. Aber es gab viele Prinz-Albert-Orte. Es gab vor dem Parlament auch die Statue von Heinrich Löwenherz, aber keine Straße und kein Platz waren nach ihm benannt. Zu Hause gab es auch viele Straßennamen nach berühmten Geisteshelden, in der alten deutschen Hauptstadt wimmelte es sogar davon. Hier in London nichts dergleichen. Woran lag das, obwohl in den großen Kirchen die historische Erinnerung einem auf Schritt und Tritt begegnete? Vielleicht weil die englische Geschichte der letzten dreihundert Jahre sowieso von Siegen und Macht so übervoll war, dass die Nelsonsäule mit den vier Löwen ohnehin alles, was man sonst in der Welt an Vergleichbarem sehen konnte, in den Schatten stellte? Und Geistesberühmtheiten stellten die Engländer wohl sowieso nicht auf, obwohl sie so viele davon hatten. Nicht nur Shakespeare. Aber die Straße, in der er jetzt wohnte, Drayton Gardens, ging auf einen Renaissancedichter zurück, auf Michael Drayton, der viel geschrieben hatte, aber vergessen war.
    Zu seiner Überraschung war beim Abendtisch abermals Julian anwesend. Wie er nun erfuhr, wohnte dieser mit Guy zusammen in dem Haus. Er hatte oben im dritten Stock sein eigenes Zimmer. Das war schon etwas überraschend. Viel überraschender aber war, als er nun beim Abendessen hörte, dass Julian Theaterschauspieler war. Und zwar in der Truppe eines Regisseurs, der als der große Gegenspieler zu Laurence Olivier fast genauso berühmt war wie dieser, nämlich John Gielgud. Für Julian war John Gielgud der allergrößte aller englischen Shakespearedarsteller. All die Jahre, in denen er Laurence Olivier bewundert hatte, war ihm der Name Gielgud unbekannt geblieben. Er konnte gar nicht anders, als das ganz offen zu
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