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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter
Autoren: K Bohrer
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Weise ungerecht, aber es entspreche dem englischen Individualismus, und der bevorzuge das frontale Zweiparteiensystem und deshalb die Benachteiligung kleiner Parteien. Guy sagte in dem Zusammenhang auch etwas über den Unterschied des englischen Common Law zum kontinentalen Recht, das auf der römischen Tradition beruhe. Englische Urteile gingen dagegen nicht auf abstrakte Definitionen, sondern auf historische Fallbeschreibungen zurück.
    Es wurde November, und er war nun schon drei Wochen in London. In der Heimatstadt hatte das Semester bereits angefangen, und eigentlich wollte er nach Göttingen. Er entschied sich, länger in England zu bleiben als vorgesehen. Er hatte sich, ohne Wissen seiner Gastgeber, eine zweite Hospitality ausgehandelt. Eine Woche Margate, eine kleine Seestadt an der Ostküste nördlich von Canterbury. Es war der reine Zufall, dass es die gleiche Gegend war, wo er im September England und die Äpfel von Kent zum ersten Mal kennengelernt hatte. Guy hatte er gesagt, er mache eine Tour, noch einmal in die Gegend von Lincolnshire und York, sei aber in einer Woche wieder zurück. Man konnte sich keinen größeren Gegensatz zu Drayton Gardens vorstellen als das Ehepaar in Margate und ihr kleines Haus. Der Hausherr war, eine freudige Überraschung, konservativer Abgeordneter für Margate im Unterhaus mit zum Teil recht strikten Ansichten. Sie war eine warmherzige Hausfrau. Das Problem war, dass beide kein Wort Deutsch verstanden und wohl gehofft hatten, er spräche viel besser Englisch. Aber zu mehr als einfachen Mitteilungen reichte es nicht. Das Merkwürdige aber war, dass er mit dem konservativen Abgeordneten und seiner Frau, die er Mr. and Mrs. Lawson nannte, großartig zurechtkam. Vielleicht war sein Gastgeber kein unbedingter Freund der Deutschen, geschweige ein Kenner ihrer Musik wie Guy und Julian. Aber er war neugierig. Irgendwie imponierte ihm der deutsche Kanzler, »a good man«, wie er immer wiederholte. Überhaupt: Die Disziplin der Deutschen fand der Hausherr beeindruckend. Aus diesen Trümmern sich herauszuarbeiten! Manchmal sagte er auch: »They were good soldiers.«
    Eines Tages, als ihm Mrs. Lawson sein Frühstück, Porridge, Spiegelei und Würstchen, am Bett serviert hatte, fand ihn Mr. Lawson beim Lesen einer deutsch-englischen Shakespeare-Ausgabe und brach zu einer langatmigen Verdammungsrede gegen Shakespeare aus. Davon verstand er immerhin, dass Shakespeare ein Anarchist sei, kein richtiger Engländer. Er solle das nicht lesen. Der shakespearefeindliche Ausbruch von Mr. Lawson kam offensichtlich aus tiefverankerten Überzeugungen. Deshalb war es eine willkommene Ablenkung, als dieser ihm vorschlug, zur nächsten Versammlung der konservativen Partei von Margate mitzugehen. Stolz stellte ihn der Gastgeber seinen Parteifreunden vor: ein wirklich reizender, intelligenter deutscher Student, der auf eine gute Zukunft des Landes hoffen lasse. Er benutzte tatsächlich das Wort »charming«, was ihm etwas peinlich war. Dann kam ein Vortrag eines jungen Konservativen, ein Plädoyer für Europa und Englands wichtige Rolle dabei. Das verstand er ziemlich gut. Es tauchten ja immer dieselben Hauptwörter auf, ohne komplizierte Nebensätze oder Begründungen. Als der Redner fertig war, traf den Jungen der Schlag. Man fragte ihn, was er denn von Europa halte. Er fasste sich ein Herz, stand auf und sah in die Runde der angeregten, ruhig zu ihm blickenden Gentlemen und sagte in einem möglichst nicht zu deutschen Tonfall: »I think Europe is a good thing.« Mehr nicht. Auf diesen Satz hin ergab sich ein tumultartiger Beifall. Mehrere schlugen ihm auf die Schulter, andere riefen das berühmte »hear, hear«. Sein Gastgeber kam und schüttelte ihm überglücklich die Hand.
    Aber was hatte er denn gesagt? Die Antwort war: Es war der absolut richtige Satz gewesen, den ihm seine Unsicherheit in der englischen Sprache zugeflüstert hatte. Und es war nur ein einziger Satz gewesen, keine lange Rede. Die Kürze war es, der die versammelten Männer so applaudierten. Er ahnte diesen Grund schon, aber Mr. Lawson setzte ihm danach beim Dinner, erstaunlicherweise mit Rheinwein, noch ausführlicher auseinander, bis er es wirklich verstand: »The best of all, you kept it short.« Es war in der Tat kürzer als Shakespeare. Er hätte sich so gerne mit dem konservativen Unterhausmitglied über englische Politik unterhalten. Aber die Woche ging zu Ende, und irgendwie war er auch erleichtert, denn wie hätten sie
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