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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter
Autoren: K Bohrer
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er sagte. Dafür war er viel zu sehr mit seinen großartigen Gedanken beschäftigt. Er hatte erreicht, was er wollte: in dieser schönen Atmosphäre mit besonderen Worten und Bewegungen aufzugehen! Natürlich war es schade, dass keine Kerzen angezündet wurden, das hatte der Halbonkel verboten. Dadurch fehlte es der Kindermesse an dem Glanz, der in der Kirche auf einen Schlag, wenn man in ihr Halbdunkel trat, alles bis dahin auf der Straße Gesehene vergessen ließ. Aber dieser Nachteil wurde dadurch aufgewogen, dass hier ein heimliches Spiel gespielt wurde, von dem die Erwachsenen keine Ahnung hatten.
    Sehr oft konnte dieses Spiel nicht wiederholt werden, denn eines Sonntags kam die Großmutter dahinter. Zwar sangen die Kinder keine Kirchenlieder, aber gerade die relative Ruhe, unterbrochen von einem unverständlichen Gemurmel, das Latein sein sollte, ließ die Großmutter die Treppe zur obersten Etage hinaufgehen und entdecken, dass hier etwas ganz Unmögliches geschah. Eine Blasphemie, die in ihrem Lieblingsenkel Gestalt gewonnen hatte, der gerade, als sie eintrat, eine weiße Oblate aus dem goldenen Kelch in die Höhe hob und den Kindern den Segen gab. Von diesem Tag an war es mit der Messe zu Ende, und der Speicher war wieder leer wie zuvor.
    Für den Jungen war es ein schwerer Schlag. Aber Rettung war nahe: die Vorbereitung auf die Erstkommunion. Inzwischen hatten die wundersamen biblischen Erzählungen von Jesu Leben und Sterben eine klarere Bedeutung für ihn gewonnen. Jesus war sein Held geworden. Das passte durchaus zu den kriegerischen Spielen der Jungen auf der Straße, unter denen er einer der Anführer blieb. Es passte nicht zu den Reden, die aus dem Rundfunk kamen, von denen die Großeltern sagten, sie seien unchristlich. Aber es gab sogar an diesem Pfingstsonntag noch immer die wunderbaren Blumenaltäre vor vielen Häusern des Viertels. Jesus als Held passte zum Christkönigsfest, das nicht dem leidenden, sondern dem siegreichen Heiland gewidmet war. Für den Jungen, der zur Erstkommunion ging, leuchteten der Kelch, die Hostie, das Weihrauchfass, leuchteten die Kirchenfenster, der Brokat auf den Priestergewändern, leuchtete alles. Es blitzte nicht so wie die Granatsplitter damals, aber es war doch eine Erscheinung von etwas Außergewöhnlichem.
    Die Erstkommunion hatte vor allem anderen diese Wirkung auf ihn. Er hatte nicht nur einen Tag, sondern Tage in der Vorstellung gelebt, etwas Außergewöhnliches sei mit ihm geschehen. Dass er den dunkelblauen Kommunionsanzug mit dem weißen Flieder im Knopfloch eigentlich nur einmal tragen durfte, war ihm ein Schmerz. Noch mehr aber, dass für die Erwachsenen der Alltag wie gewöhnlich weiterging, selbst für die fromme Großmutter. Die Geschichte über die jungen Christen in Rom, die vom Kaiser verhaftet und hingerichtet wurden, war zu diesem Zeitpunkt das, was er in der katholischen Jugendzeitschrift Das Kommunionsglöckchen am liebsten las. Nach dem Tag der Erstkommunion kam ihm der katholische Alltag plötzlich schal vor, im Vergleich zu dem glühenden Glaubensleben dieser jungen Märtyrer.
    Inzwischen durfte er während der Luftangriffe, die sich vom Zentrum der Stadt den Vororten näherten, mit dem irischen Großvater in den dritten Stock steigen, um die Richtung der Einschläge und die Brände zu sehen. Sie standen am Fenster des Speichers, in dem er gepredigt hatte. Wenn sie dann hinunter in den Keller kamen, wo die Frauen mit den kleinen Kindern saßen und beteten, spürte der Junge in sich das Gefühl des Beschützers wachsen. Der Großvater erklärte zwar weiter den Stand der Dinge, aber der Junge durfte etwas Eigenes hinzufügen: wie die Feuer aussahen und wie der schwarze Rauch zu riechen war, wenn man die Fenster öffnete. Dieses neue Gefühl von Verantwortung kam ihm zugute, wenn er mit seinen Jungen auf der Straße unterwegs war. Letztens hatten sie wieder Klee aus fremden Vorgärten als Kaninchenfutter geholt und waren einem aufgebrachten Schrebergärtner gerade noch entkommen.
    Der neue Ruhm wurde allerdings gefährdet durch den gelegentlichen Besuch seiner eleganten Mutter. Sie war inzwischen mit einem wegen einer Sportverletzung vom Militärdienst freigestellten Arzt liiert, der im Zentrum der Stadt seine Praxis hatte. Sie erlebte also die Luftangriffe in ihrer ganzen Heftigkeit, was an ihrer modischen Eleganz aber nichts geändert hatte. Wenn die Mutter, meist ohne Vorwarnung, mittags erschien, um ihn für einen Nachmittag zu einem Treff
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