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Grabeskaelte

Grabeskaelte

Titel: Grabeskaelte
Autoren: Maren Schwarz
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zum Stehen. Ich stieg ein. Verwundert registrierte ich, dass ich der einzige Fahrgast zu sein schien. Die Türen schlossen automatisch. Aus einem unerklärlichen Grund kam ich mir vor, als säße ich in der Falle, gefangen im stählernen Bauch eines gigantischen Kolosses. Laut ratternd setzte sich der Zug in Bewegung. Er beschleunigte rasant. Verzweifelt warf ich einen Blick nach draußen, um zu sehen, wo ich mich befand. Die Landschaft hatte sich in erschreckender Weise verändert und wirkte bedrohlich. So weit meine Augen sehen konnten erstreckte sich vor mir eine unfruchtbare Ebene. Der Himmel hatte sich verfinstert. Seltsam losgelöst raste der Zug in immer halsbrecherischer Geschwindigkeit dahin. Es gab keinerlei Fluchtmöglichkeit. Von einem Moment auf den anderen umgab mich undurchdringliche Schwärze. Es dauerte eine Weile, bis mir dämmerte, dass ich mich in einem Tunnel befand. Doch an seinem Ende erwartete mich kein tröstliches Licht. Ich hatte plötzlich das Empfinden, nicht mehr allein zu sein. Eine gespenstergleiche Erscheinung löste sich aus der Dunkelheit und kam auf mich zu. Mit dem Begreifen, dem Erkennen, drohte ein vernichtender Sog mich nach unten zu ziehen. Unbeeindruckt von meinen Gefühlen donnerte der Zug weiterhin ungebremst durch die Nacht, meinem Untergang entgegen.

2
    Schweißgebadet wachte ich auf. Erst allmählich begriff ich, was geschehen war. Ich glaubte frei zu sein von jenem Albtraum, der mich jahrelang in seinem Bann hielt und mich fast um den Verstand brachte. Lange Zeit hatte er mich nicht mehr heimgesucht. Aber in dieser Nacht kam er mit erschreckender Klarheit, die selbst das kleinste Detail nicht aussparte, zurück. Noch immer sah ich dieses Gesicht vor mir: bekannt und doch unendlich fremd. Fremd, weil es kein Leben mehr in sich barg. Bekannt, weil ich die noch immer mit stummer Anklage auf mich gehefteten Augen niemals vergessen konnte. Augen die sich auf ewig in meine Seele eingebrannt hatten. Weshalb nur peinigten sie mich nach all der Zeit erneut – schlimmer als je zuvor. Erschöpft schloss ich die Augen. Neben mir hörte ich das gleichmäßige Atmen meines Mannes. Wieder einmal schien es mir unfair, dass der Schlaf ihm Ruhe und Erholung brachte, mir jedoch beides nahm. Während ich noch immer nach einer Antwort suchte, weshalb längst vergessen gewähnte Ereignisse mich mit vernichtender Gewalt überfielen, wurde mir klar, dass ich die Erlebnisse längst vergangener Tage nie verarbeitet sondern immer nur verdrängt hatte. Ich lebte in einer Scheinwelt. In einer Welt künstlich erzeugter Harmonie in der es für mich keinerlei Gedanken an Gewalt, Grausamkeit und Tod gab – geben durfte. Vielleicht hatte mein Wille bisher ausgereicht, um mich mit meiner Lüge leben zu lassen. Doch mit der heutigen Nacht, das war mir klar, würde mein Selbstbetrug keinen Bestand mehr haben. Eine längst überfällige Entscheidung war zu treffen. Ich hatte sie schon viel zu lange vor mir her geschoben und zwar aus falscher Loyalität. Doch die Nachdrücklichkeit, mit welcher der Nachtmahr mein Gewissen angemahnt hatte, ließ keinen Zweifel daran, was er mir damit für eine Nachricht übermitteln wollte.
    Behutsam, um meinen Mann nicht zu wecken, schlug ich die Decke zurück und schlich auf leisen Sohlen aus dem Zimmer. Da an Schlaf nicht mehr zu denken war, ging ich in die Küche, um mir einen starken Kaffee aufzubrühen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es halb drei Uhr morgens war. Ich nahm die Tasse mit dem heiß dampfenden Getränk mit nach oben in mein Arbeitszimmer unterm Dach. Hier hatte ich mir vor etlichen Jahren meine eigene kleine Oase errichtet. Einen Zufluchtsort, der nur mir gehörte.
    In dem winzigen mit Kiefernholzpaneelen verkleideten Raum, der unter dem spitz zulaufenden Gebälk lag, thronte unter dem einzigen Fenster, das der Raum besaß, der sich in dem kleinen Zimmer riesig ausnehmende Schreibtisch meiner Großmutter. Kunstvolle Schnitzereien zierten die Türen des antiken Möbelstücks, das aus Mahagoni bestand. Seine Schubkästen quollen über von Manuskripten, eilig hingekritzelten Notizen, Wörterbüchern und Heftern. Meist sah es hier chaotisch aus. Doch es war meine Welt. Hier schrieb ich, schrieb mir die Seele aus dem Leib. Schon fünf Bücher, ein jedes um die zweihundert Seiten stark, hatte ich verfasst. Am Laptop ließ ich meiner Fantasie freien Raum. Als Gottesgabe hatte ich es betrachtet, dass ich mit einem schier unerschöpflichen,
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