Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün
Autoren: Tana French
Vom Netzwerk:
beispielsweise«, sagte ich.
    »Beim Sondereinsatzkommando brauchst du Reaktionsschnelle, Süßer«, sagte Cassie. »Wenn du erst nach einer halben Stunde weißt, was du mit einem imaginären Wurm machen sollst, wollen die dich bestimmt nicht bei einer Geiselnahme dabeihaben.«
    In diesem Augenblick kam O’Kelly ins Büro gepoltert und fragte: »Wo sind denn alle?« Cassie haute blitzschnell auf die ALT-Taste. Einer von ihren Würmern hieß O’Smelly, und sie hatte ihn absichtlich in hoffnungslose Situationen geschickt, um genüsslich zuzusehen, wie er von explodierenden Schafen ins Nirwana befördert wurde.
    »Pause«, sagte ich.
    »Ein Archäologenteam hat menschliche Überreste gefunden. Wer ist frei?«
    »Wir übernehmen das«, sagte Cassie, stieß sich mit dem Fuß von meinem Stuhl ab und rollte zu ihrem Schreibtisch zurück.
    »Wieso wir?«, sagte ich. »Kann die Pathologie das nicht machen?«
    Archäologen sind gesetzlich verpflichtet, die Polizei zu verständigen, wenn sie in einer Tiefe von bis zu zweieinhalb Metern menschliche Überreste entdecken. Irgendein superschlauer Mörder könnte ja auf die Idee gekommen sein, sein Opfer in einem Grab aus dem vierzehnten Jahrhundert zu verbuddeln, damit es hoffentlich als mittelalterlich eingestuft wird. Wahrscheinlich ist man der Ansicht, dass jeder, der es schafft, unbemerkt zweieinhalb Meter tief zu graben, schon allein für diese Energieleistung eine gewisse Anerkennung verdient. Polizei und Rechtsmedizin werden in ziemlich regelmäßigen Abständen zu solchen Fundorten gerufen, wenn durch Erosion und Absinken des Erdreichs ein Skelett dicht an die Oberfläche gekommen ist, aber meistens handelt es sich dabei bloß um eine Formalität. Es ist relativ leicht, zwischen alten und jüngeren Überresten zu unterscheiden. Detectives werden nur unter besonderen Umständen angefordert, zum Beispiel, wenn eine gut erhaltene Moorleiche einer frischen Leiche zum Verwechseln ähnlich sieht.
    »Diesmal nicht«, sagte O’Kelly. »Es handelt sich um eine frische Leiche. Jung, weiblich, sieht nach Mord aus. Die Kollegen vor Ort haben uns angefordert. Es ist in Knocknaree, Sie müssen also nicht dort übernachten.«
    Mit meiner Atmung passierte irgendetwas Seltsames. Cassie hörte auf, Sachen in ihre Tragetasche zu stopfen, und ich spürte, wie ihr Blick für den Bruchteil einer Sekunde zu mir herüberhuschte. »Sir, tut mir leid, wir können im Augenblick keine weitere Mordermittlung übernehmen. Wir stecken mitten in der McLoughlin-Sache und –«
    »Das hat Sie auch nicht gestört, als Sie dachten, Sie könnten sich jetzt einen schönen Nachmittag machen, Maddox«, sagte O’Kelly. Er kann Cassie nicht leiden, und zwar aus einer Reihe von verblüffend banalen Gründen – ihr Geschlecht, ihre Kleidung, ihr quasi heldenhafter Einsatz –, und diese Banalität stört sie weit mehr als seine Abneigung. »Wenn Sie Zeit für einen Landausflug hatten, dann haben Sie auch Zeit für eine Mordermittlung. Die von der Spurenermittlung sind schon unterwegs.« Und weg war er.
    »Scheiße«, sagte Cassie. »Scheiße, dieses kleine Arschloch. Ryan, es tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung, dass –«
    »Ist schon in Ordnung, Cassie«, sagte ich. Eine von Cassies besten Eigenschaften ist, dass sie weiß, wann sie die Klappe halten und einen in Ruhe lassen soll. Eigentlich war sie mit Fahren an der Reihe, aber sie suchte mein Lieblingszivilfahrzeug aus – einen 98er Saab, der sich wunderbar fährt – und warf mir die Schlüssel zu. Im Auto holte sie ihre CD-Mappe aus der Tasche und reichte sie mir. Der Fahrer bestimmt die Musik, aber ich vergesse meistens, welche mitzubringen. Ich entschied mich für die erstbeste CD, die einen harten, hämmernden Bass hatte, und drehte sie laut auf.
    Seit jenem Sommer war ich nicht mehr in Knocknaree gewesen. Ich kam ins Internat, wenige Wochen, nachdem Jamie hätte gehen sollen – allerdings nicht auf dasselbe. Meins war in Wiltshire in England, so weit weg, wie meine Eltern es sich leisten konnten – und als ich Weihnachten zurückkam, waren wir nach Leixlip auf der anderen Seite von Dublin umgezogen. Als wir auf der Schnellstraße waren, musste Cassie die Straßenkarte rausholen und die richtige Ausfahrt suchen. Anschließend dirigierte sie uns über holprige Nebenstraßen mit Grasböschungen und wild wuchernden Hecken, die über die Scheiben kratzten.
    Natürlich habe ich mir immer gewünscht, ich könnte mich erinnern, was damals im Wald passiert
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher