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Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)
Autoren: Holger Hof
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kometenhaft. Spielend schaffte er Anfang 1905 mit einer bahnbrechenden
Sommernachtstraum -Inszenierung
am Neuen Theater, in der Gertrud Eysold als Puck mit elektrischen Glühwürmchen im Märchenwald um die Wette schwebte, den Übergang von der Kleinkunst- auf die große Bühne; noch im selben Jahr, etwa gleichzeitig mit Benns Aufnahme in die Kaiser-Wilhelms-Akademie, wurde er Besitzer und Chef des Deutschen Theaters. Gottfried wohnte nicht weit von Berlins wichtigster Spielstätte, und bei Eintrittspreisen zwischen einer und acht Mark ist anzunehmen, dass er hier die prägenden Erfahrungen machte, die ihn mit dem Milieu in Verbindung brachten, in dem er in den nächsten dreißig Jahren seine Freundinnen suchte.
    Gleichzeitig begegnete ihm neben dem weltverdichtenden Mythos der Großstadt im Dunkel verräucherter Zellen der Mythos des Kinos. Ausgeschlossen, dass er die zwielichtigen Orte nicht aufsuchte, an denen die flimmernden Bilder das Bewusstsein sinken ließen. In den Kinos, die noch sehr viel von Varietés hatten, lief
Der Raubmord am Spandauer Schiffahrtskanal bei Berlin
, ein ungewöhnlich spannender Kurzfilm, der das Publikum in helle Aufregung versetzte.
    Im Südwesten, Postbezirk 13, in der vierten Etage der Neuenburger Straße 1a in Kreuzberg, bezog Gottfried ein kleines Zimmer, das kaum mehr als 25 Mark im Monat gekostet haben wird und keine halbe Stunde Fußweg von der Universität entfernt lag – und nur wenige Meter vom Sitz des Parteivorstandes der Sozialdemokraten. Dort druckten die Druckmaschinen in massenhaften Auflagen den
Vorwärts
, mit dem Gottfried als einem der wenigen Zeugnisse modernen Lebens im Elternhaus in Berührung gekommen war. Zudem erinnerte ihn der Name der Straße an seine aus der Nähe Neuchâtels, also des schweizerischen Neuenburg, stammende Mutter. Von hier aus brach er während des Semesters zu den Mahlzeiten in eine der umliegenden »Bierquellen« der Gebrüder Aschinger auf und begann, wie die meisten seiner Kommilitonen, ein von Eltern und Geschwistern weitgehend unabhängiges studentisches Leben mit Frauen und Biertrinken, auf das er niemals mehr verzichten würde. Im Sommer 1905, es gehört zu den spärlichen Kenntnissen, die wir über Benns Leben in diesem Jahr haben, hörte er eine Nietzsche-Vorlesung des Scherer-Schülers Richard M. Meyer, die ihn grundlegend prägte und dauerhaft beschäftigten sollte. Als wahrscheinlich darf gelten, dass er die Vorlesungen der großen Koryphäen – Heinrich Wölfflin las über »Kunstgeschichte im 19. Jahrhundert« und Wilhelm Dilthey beschäftigte sich mit der »Geschichte der Philosophie« – nicht verpasst hat. Und noch vor Beginn der großen Semesterferien machte er einen Ausflug an den Rhein und reimte in Vorfreude auf das Kommende nach Hause:
     
    Wem komm’ ich wohl am ersten was?
    Den Eltern wie ich meine.
    Auf Euer Wohl mein erstes Glas,
    Mein erstes Glas am Rheine. 9
     
     
    Der lang ersehnte neue Lebensabschnitt hatte also begonnen. Augenblicklich faszinierten ihn Lärm und Geschwindigkeit einer Betriebsamkeit, auf die die Berliner mit einem Bedürfnis nach Zerstreuung reagierten, was wiederum den Kulturbetrieb so richtig in Fahrt brachte. »Japaner vor Generalsturm auf Port Arthur!«, schrien an den Straßenecken die uniformierten Zeitungsjungen am Tag nach Gottfrieds Ankunft. Für 5 Pfennig verkauften sie die erste Nummer der
B. Z. am Mittag
, als er auf dem Weg zum Fotografen war. Das Foto ist überliefert. Es ist ein für die Zeit modernes, nüchternes und sachliches Porträt aus dem Kaufhaus Wertheim am Leipziger Platz, wie man es dort im eintausend Quadratmeter großen Atelier seit einigen Jahren täglich hundertfach herstellte.
     
Als ich jung war, erschien 1903 die Anthologie von Hans Benzmann »Moderne deutsche Lyrik«. … Dies war die Anthologie, aus der wir damals das Lyrische in uns aufnahmen, und sie war nicht schlecht, sie enthielt, wie ich heute sehe, erstaunlich viele schöne Gedichte, geschrieben von vielen, die keineswegs zu den Großen zählten, und deren Namen heute keiner mehr kennt. 10
     
    Zu ergänzen wäre, dass einige von ihnen kaum älter als er selbst waren – Agnes Miegel und Reinhard Piper, Stephan Zweig, Alfons Paquet und Hugo Philipp. Die jüngsten der 150 in die Anthologie aufgenommenen Lyriker waren gerade mal zwanzig Jahre alt. Moderne Lyrik machen, das wollte der 17-Jährige auch, und er wollte keine Zeit verlieren, um seine persönliche Entwicklung in die richtigen Bahnen zu
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