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Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)
Autoren: Holger Hof
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man das Luftschiff Zeppelin 6 über das Häusermeer schweben, bis schließlich der Graf und seine Mitarbeiter auf dem Tegeler Schießplatz landeten und vor der Schiffsgondel vom Kaiser und seiner Frau begrüßt wurden.
    Zwei Tage später verließ Benn Mohrin und fuhr in die Lungenklinik Vogelsang bei Gommern im Bezirk Magdeburg. Hier famulierte er »gegen freie Station« und traf erstmals in seinem Medizinerleben auf wirkliche Patienten. Die Gebäude der 1899 gegründeten Volksheilstätte für Frauen lagen in einem weitläufigen Park, zusammen mit zwei nach den modernsten Hygienestandards ausgestatteten Krankenpavillons, wo es auf Körperwärme beheizbare Klosettsitze und so viele große Waschräume gab, dass jede Patientin ein eigenes Toilettenzimmer besaß, in dem sie sich unbeobachtet waschen konnte.
     
Ballin hat mich dahin verlockt u. diese Anregung entsprang meinen eigenen Wünschen, da ich hier so absolut nicht zum Arbeiten mich innervieren kann, daß ich ohne jede Weiterbildung nach Berlin zurückgekommen wäre. Wie wäre es nun, wenn du auch dahin kämst? … Das Leben soll sehr idyllisch u. doch in wissenschaftlicher Hinsicht lehrreich sein. 51
     
    Auch besaß man in Vogelsang ein Röntgengerät, dessen Bedeutung für die Diagnostik der Lungentuberkulose soeben ins allgemeineBewusstsein der Heilstätten zu dringen begann. Es sollte nicht die letzte Lungenheilanstalt sein, in der Benn als vertretender Arzt seinen Dienst versah –
seine Hände über eine Röntgenröhre führte, das Quecksilber der Quarzlampe verschob, den Spalt erweiterte oder verengte, durch den Licht auf einen Rücken fiel oder mit einem Finger der rechten Hand auf einen der linken klopfte oder durch eine Liegehalle ging und in je zwei Augen fiel …
52
     
    Seit dem Winter 1908 /09 hörte Benn die für seine Zukunft entscheidenden Vorlesungen: in jenem Semster bei Edmund Lesser über Haut- und Geschlechtskrankheiten, das Fachgebiet, dem er sich, der selber ein Leben lang unter Ekzemen und Furunkeln litt, nach gescheiterten Versuchen in der Psychiatrie und der Pathologie als niedergelassener und später als Facharzt zuwenden wird. Im Sommer folgte bei Arnold Hiller Heeres- und Gesundheitspflege. Hier bekam er sein Dissertationsthema
Über die Häufigkeit des Diabetes mellitus im Heer
und wurde damit Teil des von Otto von Schjerning als »Sanitätsstatistische Betrachtungen über Volk und Heer« bezeichneten groß angelegten Programms, 53 das den Gesundheitsstand des Heeres untersuchte.
    Als Gottfried am Montag, dem 4. Oktober 1909, morgens um acht Uhr das neue pathologisch-anatomische Institut in der Charité betrat, lagen vor ihm zwei Stunden »Sektionstechnik« bei Johannes Orth, dem Nachfolger Rudolf Virchows. Genau drei Jahre später sollte er, dann als Assistent, wieder die Kellerräume einer Pathologie betreten – durch die mit Mettlacher Fliesen eingefassten Terrazzogänge des Charlottenburger Westend-Krankenhauses schreiten, Mundschutz, Handschuhe, Stiefel und Schürze anziehen, an eine Leiche treten und sein erstes Sektionsprotokoll anfertigen.
    Nach einstündiger Pause ging es zur Psychiatrie-Vorlesung. Theodor Ziehens Forschungsschwerpunkt war die experimentelle physiologische Psychologie, insbesondere die Geisteskrankheiten des Kindesalters und das Seelenleben Jugendlicher. Alsder erklärte Freud-Gegner zu lesen begann, traute Benn seinen Ohren nicht. Der Vortrag war durch die ihm eigene Art der Betonung und des Wechsels der Stimmlage nicht nur ein ästhetischer Genuss, sondern es gelang ihm, mit wenigen Sätzen das medizinisch-dichterische »Seelenleben« Gottfried Benns in Aufruhr zu bringen und für unabsehbare Zeit zu fesseln:
     
Die Psychologie, welche ich Ihnen vortragen will, ist nicht jene alte Psychologie, welche die psychischen Escheinungen auf einem mehr oder weniger spekulativen Wege zu erforschen versuchte. Diese Psychologie ist von denen, die naturwissenschaftlich zu denken gewohnt sind, längst verlassen. An ihre Stelle ist die rein empirische Psychologie mit Fug und Recht getreten. Alle Metaphysik ist aus der Psychologie verbannt. 54
     
    Hier beginnt Benns Auseinandersetzung mit der Psychiatrie. Sie reicht von den essayistischen Anfängen der Jahre 1910 / 11 55 und dem lange verschollenen Prosatext
Unter der Großhirnrinde
56 bis zur Abrechnung der »Rönne-Texte« mit der anfangs so verheißungsvollen Disziplin, die Medizin, Naturwissenschaften und die Prinzipien moderner Kunst umspannen sollte und deren
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