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Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)
Autoren: Holger Hof
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nach Landsberg geschafft, das Schlafzimmer, ihr Chippendale-Damen- bezw. Esszimmer, Wäsche, Silber, Bilder, … 55
     
    Anschließend informierte Benn seine Vermieterin Frau Christel Kretzschmer von der unmittelbar bevorstehenden Abreise Hertas. Der in der Benn-Literatur als Monsieur Desmoulin auftauchende Kriegsgefangene und Verehrer Hertas, Jérôme Demolière, findet seine letzte Erwähnung im Kalender, und noch einmal erreichte die Benns Post von Hertas Schwester Doris und Gottfrieds Bruder Stephan. Mit den wenigen Sachen, die Herta mitnehmen konnte, bestieg sie am Morgen des 26. Januar einen der Laster, die Landsberg verließen. Der brachte sie nach Berlin, von wo sie sich am späten Abend kurz vor Mitternacht telefonisch meldete – angekommen zu Hause in der Bozener Straße 20.
     
… alles flieht, keine Eisenbahnplätze zu kriegen, für 1 Platz in einem Lastwagen werden 1000 M u ein Schinken geboten.
Ich bleibe hier. Ob die Dienststelle verlegt wird, ist unsicher. Ich bin quasi krank gemeldet, hatte kürzlich eine schwere Grippe, könnte eventuell mit dieser Begründung nach Berlin, weiss aber noch nicht, was zweckmässig ist. Ungeheizte Räume hier, die Stadt voll Flüchtlinge, ungeheure Spannung. 56
     
    Unseligerweise hielten die Behörden am Evakuierungsverbot fest, das erst am 28. Januar, also dem Tag, als Benn aus Landsberg floh, und zwei Tage vor dem Einmarsch der russischen Armee, aufgehoben wurde. Gerade noch rechtzeitig! Am Vortag hatte Benn »Briefe verbrannt usw.«, 57 denn natürlich war eine Rückkehr nach Landsberg ausgeschlossen.
     
Und dann kam im Osten das Ende. Wenn man am 27.   1.   45 beim Stadtkommandanten vorsprach und fragte, was machen wir denn mit unseren Sachen, die wir mühsam seinerzeit aus Berlin hierhergeschleppt hatten, wenn die Russen kommen, antwortete der Adjutant, ein SS.-Hauptmann: wer so fragt, wird an die Wand gestellt, die Russen kommen nicht durch, möglich, daß mal ein Spähpanzer in der Ferne sichtbar wird, aber die Stadt wird gehalten, und wer etwa seine Frau nach Berlin zurückschickt, wird ebenfalls erschossen. In der folgenden Nacht um 5 Uhr war dann Alarm, Artilleriebeschuß, und wir liefen mit einer Aktenmappe im Schneesturm bei 10 Grad Kälte zu Fuß nach Hause auf den vereisten Chausseen, verstopft von den endlosen Reihen der Trecks mit ihren Planwagen, aus denen die toten Kinder fielen. In Küstrin wurden wir in einen offenen Viehwagen verfrachtet, der uns die 60 Kilometer nach Berlin in 12 Stunden unter Fliegersalven zum Bahnhof Zoo brachte. So verlief das Ende des ganzen Ostens, Stadt für Stadt. In der Wohnung waren dann fremde Leute, die Stuben leer, wir deckten uns mit meinem Soldatenmantel und Zeitungspapier zu, um aufzuwachen, als die Sirenen heulten. So klang es aus – das Blockleben, Zimmer 66. 58
     
    Folgt man Benns Angaben im Kalender, stellt sich die Rückkehr nach Berlin folgendermaßen dar: Morgens um zehn wurde der Zug, Personenwaggons im Vorderteil und Güterwaggons hinten, aus Meseritz erwartet. Über Küstrin sollte es nach Berlin gehen. Die Abfahrt verzögerte sich jedoch bis zum frühen Nachmittag, ehe der Zug um 21 Uhr Küstrin verließ, um am frühen Morgen um vier den Bahnhof Zoo zu erreichen. Ob – wie Benn schreibt – in seiner Wohnung fremde Leute waren, darüber gibt der Kalender wenigstens keinen positiven Bescheid. Wahrscheinlich aber handelte es sich um Nachbarn. Was die etwa 15   000 in Landsberg Gebliebenen erwartete, davon berichtet eine Bekannte der Benns, Hedwig Deutschländer:
     
Es war am 30. Januar 1945. Abends sahen wir scharenweise SS-Leute in kleinen Personenwagen westwärts fahren, bestens mit Pelzen ausgerüstet. Was sie noch brauchten, holten sie sich aus den Geschäften und fuhren wortlos weiter. Fast auf dem Fuße folgten ihnen die ersten Russen. … Als sie nirgendwo Widerstand fanden, drangen etwa 20 bis 25 Mann in unsere Wohnung ein und verlangten, daß ich ihnen Essen koche. Am nächsten Morgen aber war es mit der Ruhe vorbei. Scharenweise zogen Russen durch die Wohnung, verlangten »Urri-Urri«, Schmuck, Geld und Waffen. … Die Frauen und Mädchen trugen alte Mäntel und Kopftücher – nicht nur der Kälte wegen: Nun begannen die Vergewaltigungen. 59

»Tua res agitur«
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    Nachdem die Benns Ende Januar nach Berlin geflohen waren, führte Gottfrieds erster Weg zum Truppenarzt beim Standortarzt. Schließlich war er krankgeschrieben, und das wollte er bei der bedrohlichen Lage der Dinge
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