Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)
Autoren: Holger Hof
Vom Netzwerk:
der Kontakt ab.
     
    Am Sonntag, dem 11. März, setzte sich Benn an seinen kleinen alten Schreibtisch und begann mit den Vorarbeiten zu dem
Willkommensgruß an die Emigranten
, vor sich das Bild mit der Buchtvon Nizza, oder war es San Remo, er wusste es selbst nicht genau, daneben »eine Photographie aus dem Britischen Museum: ›Hypnos‹, (Perugia 4th. century), ein wunderbarer Kopf mit Flügeln, ein Kopf mit einem unaussprechlichen Ausdruck von Versunkenheit u. Ernst«. 73 Tags zuvor hatte Himmelsbach ein Detektorradio mit Kopfhörer gebracht; die Verbindung zur Welt war wieder hergestellt, vor allem wenn der Strom, wie jetzt immer häufiger, ausfiel. Hans Wagner war auf Erkundungsreise in Neuhaus, und das sonntägliche Treffen mit den in Berlin gebliebenen Geschwistern Edith, Ernst-Viktor und Theo fand heute nicht statt. Siegfried war im Ersten Weltkrieg, der jüngere Halbbruder Hans-Christoph im Oktober 1941 gefallen. Vom Tod des 1916 geborenen Friedrich am 12. Januar hatten ihn Edith und Ernst-Viktor vor zwei Wochen unterrichtet. Stattdessen versuchte Benn an diesem Sonntag das einzige Mal – wahrscheinlich motiviert von der Vorstellung, in Neuhaus in relativer Ruhe weiterschreiben zu können –, sein schriftstellerisches Schweigen zu unterbrechen und an den Briefwechsel mit Klaus Mann und den Emigranten an der Stelle wieder anzuknüpfen, wo er ihn 1933 unterbrochen hatte.
    Mit einem Vorwurf wollte er sie begrüßen –
tua res agitur!
Um den Untergang
ihres
Volkes sei es gegangen, sei es auch nur das der Naziepoche. Gleich im ersten Satz wollte er ihnen mit Ironie begegnen, die moralische Überlegenheit des hier Gebliebenen demonstrieren und antizipierte damit durchaus gewollt seine erneute Rolle als Außenseiter, die ihm in seiner Vorstellung die Emigranten nach ihrer Rückkehr zuweisen würden. Natürlich würde er ihnen zugestehen, dass sie die Nazis und all ihre Unterstützer hassten, und dieser Hass sei auch berechtigt, denn
     
die menschliche Substanz tritt hier zu Tage.
Dass der Mensch, der gebildete, der studierte, der Hochstand der weissen Rasse, befriedigt wieder in Höhlen wohnt, stolz darauf ist, wenn er 2 Mohrrüben mehr erhält als der Nachbar, die Schauerder Bombennächte vergisst, wenn ihm eine halbe Flasche Schnaps »zugeteilt« wird u er der zuteilenden Gangsterbehörde noch zum Gruss den rechten Arm hebt, dem muss man sich stellen; … 74
 
Wer über Deutschland reden und richten will, muss hier geblieben sein. 75
 
Trotzdem sage ich auch heute ja dazu, dass ich hier geblieben bin u versucht habe, das Deutschland, in dem ich gross geworden bin, noch einmal zu verstehen. Ein vergeblicher Versuch – teuer bezahlt! 76
     
    Wie würden sie ihm begegnen? Was ihm vorwerfen? Gemeinsame Sache gemacht zu haben mit skrupellosen Mördern, staatsrechtlichen Fälschern, ihm alle nur denkbaren moralischen Laster anhängen, ihn als Verbrecher bezeichnen, wie sie es bereits mit Furtwängler, Hamsun, Sven Hedin und Ortega versucht hatten? Mit diesen wollte und durfte er nicht über einen Kamm geschoren werden.
     
Es giebt Totalitäten im Menschheitsblock … an denen der Geist völlig zerschellt, die er niemals durchdringen, die er nur umgehen kann.
Das ist neu. Ich wusste es nicht. Wussten Sie es? Wusste es der Liberalismus? Ja. – Nur dann hat er sich falsch verhalten, weichlich u feige gehandelt, Sie hätten mit der Ausrottung dieser Totalitäten anders beginnen müssen, wenn Sie Deutschland liebten. Dann hätten auch Sie nicht zu emigrieren brauchen, aber das Bürgerliche hindert auch Sie, diese Dinge zu erkennen. 77
     
    Die Argumente waren fast dieselben wie vor Beginn der Nazi-Diktatur. 78 1933 hatte Benn den Liberalen vorgeworfen, ihnen habe die Härte gefehlt, die neuen geschichtlichen Realitäten zu erkennen und sich darin einzurichten, jetzt war es der Vorwurfbürgerlicher Weichheit und Gemütlichkeit, die politischen Realitäten 1933 nicht aktiv verändert zu haben, sondern davor weggelaufen zu sein. Selbst unter der Voraussetzung, dass das politische Urteil des Liberalismus schärfer und vorausschauender als sein eigenes war –
ich wusste es nicht
–, in beiden Fällen, so Benns Analyse im März 1945, war Emigration die falsche Entscheidung.
    Benns blieben also vorerst in Berlin. Seine Begrüßungsrede für die Emigranten hob er sich für einen späteren Zeitpunkt auf. Die Bombardements wurden immer heftiger, am 28. März war die Altstadt Spandaus das Ziel eines schweren Luftangriffs.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher