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Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)
Autoren: Holger Hof
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wartete bis zuletzt und trug vor:
     
Warum soll ich über dieses Thema
schlechte Verse reißen.
Über Rosen kann man dichten,
in die Äpfel soll man beißen. 49
     
    Natürlich war das nicht das einzige Mal, dass die Benn-Kinder gedichtet haben. Einmal schrieb er aus Frankfurt seiner älteren Schwester Ruth, der »fürstlichen Dichterin«, nach Göppingen ins Internat: »Hätt’ ich gewußt, daß du so schön kannst dichten, / ich hätte es zu thuen nicht gewagt.« 50 Vom späteren Lebensweg der hübschen Schwester, die wir von wenigen Fotos mit langem braunem, hochgestecktem Haar kennen, ist so viel bekannt, dass sie, bis zur Heirat mit dem Oberfinanzdirektor Paul Rühe, in Hamburg Lehrerin war, danach in Breslau, Berlin, Münster und wieder in Hamburg lebte, wo sie am 23. Juli 1952 »an Hirnblutungen (wie Tante Ellen [Overgaard)]« 51 starb.
    Das größte Erlebnis in jenen Jahren war zweifellos die Silvesternacht der Jahrhundertwende.
Das Jahrhundert der Erfindungen
ging zu Ende, sein
bedeutendster Mann
– so das nostalgisch gefärbte Urteil der Leser der
Berliner Illustrierten Zeitung
–, Otto von Bismarck, »Baumeister des Reichs«, war vor zwei Jahren gestorben. Im fast zwei Millionen Einwohner zählenden Berlin beging man im Gegensatz zu den eher nüchternen offiziellen Feiern die ausgelassenste und zügelloseste Silvesternacht seit Menschengedenken. Abertausende standen vor dem Rathaus und verfolgten, wie die Stadtkapelle das neue Jahrhundert mit Fanfarenklängen begrüßte. Als es so weit war, brach aus der Menschenmassezwischen Brandenburger Tor und Rathaus ein donnerndes »Prosit Neujahr« heraus. Sehr viel ruhiger, dennoch aber unvergesslich, wurde das Jahrhundertereignis bei den Benns in Sellin gefeiert.
     
Alles wachte, alles feierte, die Kirchenglocken läuteten um Mitternacht, man erwartete irgendetwas ganz besonderes, eine Art Anbruch des Paradieses innen und außen. Mein Vater trat aus seinem Pfarrhaus und umarmte den Dorfschulzen, einen großen reichen Bauern, alles umarmte sich, es war eine schnee- und regenlose Nacht, es war ein großes Ereignis. 52
     
    Der Tag hatte nicht gerade glücklich begonnen. Gottfried waren bereits einige seiner Ferientage durch Zahnschmerzen verleidet, und obwohl Sonntag war, musste der Zahn noch am Silvestertag gezogen werden. »Sechsmal zog er!« Am Abend durfte er »aufbleiben« und bestieg mit seinem Vater und Onkel Eugen aus Bad Boll um Mitternacht den Kirchturm, »wo geläutet wurde und läuteten auch mit. Um 1 gingen wir dann zu Bett.« 53
    Einen ebenso großen Eindruck scheint das vorausgegangene Weihnachtfest gemacht zu haben. Im »Silvester«-Brief an die Schwester listete Gottfried detailliert seine Geschenke auf – darunter Wilhelm Hauffs romantische Sage
Lichtenstein
, Hanns von Zobeltitz’
Dreissig Lebensbilder deutscher Männer aus neuerer Zeit
, Oskar Schwebels Historienschinken
Hans Jürgen von der Linde
und von Onkel Paul Brodersen, dem Neffen Christoph Blumhardts, (wahrscheinlich) Eugen von Enzbergs Biographie
Fridtjof Nansen
. Nicht nur, dass der Tertianer mit Freude »dichtete«: er war eine Leseratte. Vier Wochen später wird er in Felix Dahns achthundert Seiten starke Ostgotensaga
Ein Kampf um Rom
versunken sein.

III

»BERLIN IST MEINE STADT« 1
(1904 – 1910)
     
     
    »Ich habe mir vorgenommen,
    in mir einen kleinen jüngsten Tag zu
    arrangieren u. Echtes u. Falsches
    zu trennen.«
2
     
     

»Freiheit, eigene Weltanschauung, Künstlertum«
3
     
     
    Am 21. Oktober 1904 verließ Gottfried Benn das Amt mit dem heiß ersehnten Stempel der Meldebehörde im Pass. Eine Woche später war er immatrikuliert. Zum ersten Mal atmete er in jenem Herbst Großstadtluft. Über den Brücken der Hauptstadt sah er das unglaubliche Licht – diese Weihe aus Blau, wie er es später einmal beschrieb. 4 »Berlin war seit 1904 meine Heimat.« 5
    Berlin galt zu Anfang des Jahrhunderts nicht nur als die unruhigste und hektischste Stadt der Welt, sondern war für den Neuankömmling
die
»große Stadt, in der Kritik geübt wurde, aus der man Impulse hörte und vor der man sich genieren konnte«. 6 Er war ja ein Provinzler:
     
In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs
wurde auch kein Chopin gespielt 7
     
    Sein Vater sei überhaupt nur einmal im Theater gewesen: 8 in Wildenbruchs
Haubenlerche
. Aber der Stern des Kaiserreichsapologeten Wildenbruch war mit dem Auftreten des Antinaturalisten Max Reinhardt bereits tief gesunken. Dessen Aufstieg war
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