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Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)
Autoren: Holger Hof
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Drei Tage später, am Ostersamstag, fielen Danzig und Küstrin. Das Osterfest war verregnet, an Feiern dachte niemand. Glücklicherweise gab es wieder Warmwasser, während Benn stark erkältet war und Halsschmerzen hatte. Als Reichsverteidigungskommissar Goebbels anordnete, Berlin bis zur letzten Patrone zu verteidigen, was bei rund neunzigtausend in der Stadt befindlichen Soldaten, SS-Angehörigen und Mitgliedern des Volkssturms gegenüber zwei sowjetischen Armeen einer Unmöglichkeit gleichkam, brachten Patientinnen Kaffee, eine Azalee und eine Flasche Wein.

II

»VOM RAND DER ERDE
KOMM ICH HER« 1
(1886 – 1904)
     
     
    »Die Menschheit hat in der Erkenntniß ein
    schönes Mittel zum Untergang.«
2
     
     

»Es lebe die rue de Guben –«
     
     
die gingen wir oft entlang
als wir noch Mädel und Buben –
und die Schwalbe sang … 41
     
    »Von außen gesehen, verlief mein Leben nicht ohne Glück. Ich kam auf ein
humanistisches
Gymnasium« 42 – der Umkehrschluss, dass es von innen gesehen bis dahin nicht ganz ohne Unglück verlaufen war, darf ruhig gezogen werden.
     
Lebe wohl den frühen Tagen,
die mit Sommer, stillem Land
angefüllt und glücklich lagen
in des Kindes Träumerhand. 43
     
    Am 29. September 1897, mit dem Ende der Sommerferien, wird Gottfried Benn von beidem – vom
Glück
und vom
Unglück
– etwas gespürt haben. Vor ihm lagen in der Gubener Straße in Frankfurt an der Oder sechs Jahre bis zum Abitur. Danach sollte er in eine Welt entlassen werden, die erst in Umrissen erkennbar war und ihre eigentlichen Gründerjahre unmittelbar vor sich hatte. Es sind die Jahre des Entstehens eines modernen Verlagswesens; die damals gegründeten »Kulturverlage«, sei es von Samuel Fischer (1886), Eugen Diederichs (1886), Albert Langen (1893) oder den Cousins Paul und Bruno Cassirer (1898), sind zum Teil heute noch auf dem deutschen Buchmarkt präsent. Aber zurück zu dem Donnerstag im September 1897, als die
primären Tage
des begabten Pastorensohnes aus einem roten Backsteinhaus mit blauen Fensterläden in der neumärkischen Provinz zu Ende gingen, wo »es keinen Chopin [gab], es war völlig amusisch, mein Vater hat nie in seinem Leben ein Buch gelesen«. 44 Sechzig Kilometer von zu Hause entfernt, in der 60   000Einwohner zählenden Garnisons-, Handels- und Bezirkshauptstadt, betrat er einen mächtigeren roten Backsteinkasten: den Neubau des Königlichen Friedrichs-Gymnasiums.
    Neben einem Eintrittsgeld kostete die Schule im Jahr 480 Mark Schulgeld. Benn scheint aber – so legt das etwa zwanzig Jahre später entstandene Gedicht
Pastorensohn
nah – Stipendiat gewesen zu sein: »Herr Schneider Kunz vom Kirchenrate / gewährt dir eine Freiportion.« 45
    Dem Anlass der Einschulung angemessen, ließ man ein Foto von Gottfried im Halbprofil machen, auf dem das Kind mit dem frisch geschorenen Kopf den Ernst seiner Lage ganz zweifelsfrei erkennt. 46
    Nur wenige Schritte von der Schule entfernt, in der zweiten Etage der Gubener Straße 31a, befand sich die Schülerpension der Rechtsanwaltswitwe Agnes Leonhard. Hier war Gottfried zusammen mit seinem immerhin vier Jahre älteren Freund Heinrich von Finckenstein, genannt Hein, der diesen Sommer bereits sein drittes Halbjahr hinter sich gebracht hatte, in einer »engen Bude« 47 untergebracht.
    Gottfried vertiefte im Religionsunterricht seine Kenntnisse in Bibelkunde und Kirchengeschichte, wurde im Latein- und Griechischunterricht mit Platons
Protagoras
, Tacitus’
Germania
und den Oden des Horaz bekannt und begann mit seinem Mathematiklehrer Professor Philipp Ludwig, genannt »Louis«, auf Wandertagen und Sonnabendtouren an den zum Oderufer hinführenden Pontischen Hängen die Gegend um Lebus zu erkunden. »Ich kenne die Gegend ja gut. Von Frankfurt a O. machten wir öfter Touren«, 48 wird er viel später an Gertrud Cassel schreiben. Zu Hause in Sellin überstürzten sich indes die Ereignisse. Seine Mutter war zum siebten Mal schwanger, und wenige Wochen vor der Geburt des letzten Sohnes Ernst-Viktor starb sein nur drei Jahre alt gewordener Bruder Hans-Georg an tuberkulöser Hirnhautentzündung.
    Weihnachten, Ostern und die großen Ferien verbrachte derGymnasiast regelmäßig in Sellin. Über diese Ferienaufenthalte ist jedoch kaum etwas bekannt. Eines Sonntagnachmittags soll der Vater einen Apfel auf den Tisch gelegt und seine Kinder gebeten haben, ad hoc ein kleines Gedicht über den Apfel zu verfassen. Alle schwitzten. Gottfried, ungefähr sechzehn,
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