Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Gottesopfer (epub)

Titel: Gottesopfer (epub)
Autoren: Tanja Pleva
Vom Netzwerk:
ihm der Professor jedes Mal wieder medizinische Vorträge hielt und ganz nebenbei fragte, ob Lily Drogen genommen hatte.
    Sam lehnte sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. In ihm stiegen grauenvolle Bilder aus der Erinnerung auf. Lily spindeldürr, zusammengekauert unter dem Waschbecken sitzend. So hatte er sie vor zwei Monaten aus der Suratthani-Klinik in Thailand abgeholt.
    Er machte die Augen wieder auf und holte seinen iPod mit denewig verknoteten Kopfhörern heraus, entwirrte sie und wählte Pavarottis Una furtiva lagrima . Er drehte die Musik auf volle Lautstärke, um für einen Moment der Realität zu entfliehen.
    Auf Bahnhöfen oder Flughäfen zu sitzen und zu warten war für Sam ein Gräuel. Warten war für ihn verlorene Zeit, die man anderweitig so viel sinnvoller hätte nutzen können. Er betrachtete die Menschen um sich herum, die wie er auf den Flug nach Rom warten mussten und sich auf die unterschiedlichste Weise die Zeit vertrieben. Sein Blick blieb am Hut eines älteren Mannes hängen, der mit dem Rücken zu ihm saß und ihn an einen guten alten Freund erinnerte. Vor vier Jahren hatte er mit seinem etwa fünfzehn Jahre älteren französischen Kollegen Phillippe Argault an einem Fall gearbeitet, der international Schlagzeilen gemacht hatte. Sie hatten fast ein Jahr gebraucht, um einen Pädophilen zu stellen, der Kinder vor laufender Kamera wie Vieh ausgeweidet hatte. Ihm auf die Schliche zu kommen war deshalb so schwierig gewesen, weil die Kinder aus deutschen Kliniken entführt, die kleinen Leichen aber in Frankreich gefunden worden waren. Der Mann hatte wie viele andere Verbrecher die offenen Grenzen der Europäischen Union für sich genutzt. Deshalb hatte man in den Neunzigerjahren Europol gegründet und war dort für jeden mehrsprachigen Beamten dankbar. Sam sprach vier Sprachen fließend, Englisch, Spanisch, Deutsch und Französisch, und gehörte zu den drei ersten deutschen Tatortanalytikern, die 1995 vom Dezernat 11 des Münchner Polizeipräsidiums nach Wien zur Ausbildung geschickt worden waren. Inzwischen wurde er als Sachverständiger europaweit gerne bei ungelösten Fällen hinzugezogen.
    Er überlegte, wie lange er nicht mehr mit Argault gesprochen hatte. Waren es zwei oder sogar drei Monate? Sam hatte beinahe ein schlechtes Gewissen, aber er war als Einzelgänger nun einmal miserabel, wenn es darum ging, Kontakte zu pflegen.
    Er sah auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde bis zum Abflug. Er suchte in der Kontaktliste seines Handys den Namen Argault.
    Â»Allô?«, meldete sich eine raue Stimme.

    Â»Phillippe, hier ist Sam.«
    Â»Oh, schön von dir zu hören. Ich meine, persönlich.« Phillippe lachte. » Mon Dieu , dein Ruf eilt dir mal wieder voraus.«
    Â»Wusste nicht, dass die Geschichte schon zu dir durchgedrungen ist.« Sam atmete lautlos aus.
    Â»Du weißt doch, die Welt ist klein, und schlechte Nachrichten verbreiten sich schneller als der Schiss einer Möwe, der aus zwanzig Metern auf deinem Haupt landet. Aber du bist ja bekannt dafür, dass du auf Kriegsfuß mit der katholischen Kirche stehst.« Ein heiseres Lachen, abgelöst von einem rollenden Husten, drang an Sams Ohr. Er wartete, bis Argault sich beruhigt hatte, und wechselte schnell das Thema. Er war nicht stolz darauf, dass er sich, wenn man ihn besonders reizte, manchmal nicht unter Kontrolle hatte, und wollte darüber jetzt nicht sprechen. Seine Strafe hatte er bereits erhalten. Sie hatten ihn von dem Fall abgezogen – was ihn allerdings nicht sonderlich störte –, und damit war für ihn die Sache erledigt.
    Â»Ich bin auf einen neuen Fall angesetzt worden. Aber wie sieht es mit dir aus? An was arbeitest du zurzeit?«
    Â»Ich bin in Rente gegangen.«
    Argault ist gerade mal Ende fünfzig, schoss es Sam durch den Kopf. »Ist es dafür nicht etwas zu früh?«
    Â»Man kann sich nie früh genug mehr seiner Frau und seinen Rosenbeeten widmen. Ich habe fast vierzig Jahre für die franzö­sische Mordkommission gearbeitet. Jetzt ist mein Privatleben dran. Du solltest dir auch etwas fürs Herz suchen, Sam. L’amour ist wichtig für die Seele, sie hält dich jung und am Leben.«
    Â»Ihr Franzosen und die Liebe!« Sam lachte, denn Argault war ein unverbesserlicher Romantiker. Er hatte seine Frau vor dreißig Jahren kennengelernt und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher