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Gottesopfer (epub)

Titel: Gottesopfer (epub)
Autoren: Tanja Pleva
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seh nichts. Fahr endlich zum Dammtor, ich brauche Zigaretten.«
    Hatte er Halluzinationen von der Grippe? Stein überlegte, ob er auf Sommer hören oder ob er seinem Instinkt folgen sollte. Er ließ langsam die Kupplung im zweiten Gang kommen, und der Wagen setzte sich schliddernd in Bewegung. Dann wendete er auf der eisigen Fahrbahn.
    Â»Ich hab doch gesagt, du sollst zum Dammtor fahren«, sagte Sommer aufgebracht und verstummte plötzlich, denn direkt vor ihnen im Scheinwerferlicht, mitten in der kleinen Seitenstraße, tauchte etwas auf.
    Stein rieb sich die Augen. Dieses Etwas war splitternackt. Die Haut hing wie Lederlappen an den Knochen herunter. Die Rippen stachen wie dunkle Flecken unter der weißen, fast transparenten Haut hervor. Es war, als schlurfe ein Skelett die Straße herunter.
    Â»Ist Halloween nicht vorbei?«, fragte Sommer, doch der Witz kam nicht an. »Halt an, ich seh mir das mal genauer an.«
    Der Wagen hielt, Stein griff etwas langsamer nach seiner Mütze als Sommer, der bereits die Tür geöffnet hatte und mit einem Fuß im Schnee stand.
    Â»Hey! Polizei! Bleiben Sie stehen!«, rief Sommer der Gestalt hinterher.
    Das geräuschlose blinkende Blaulicht tauchte die verschneite Seitenstraße und die weißen Häuserfassaden in ein gespenstischesLicht. Stein versuchte, Sommer einzuholen, und verlor beinahe das Gleichgewicht auf der vereisten Straße. Er ruderte mit den Armen und hielt sich an der Kühlerhaube fest.
    Wieder rief Sommer: »Haben Sie nicht gehört? Bleiben Sie stehen!«
    Keine Reaktion. Das Skelett bewegte sich unaufhörlich weiter. Es schien irgendetwas zu tragen. Und dann war da dieses Geräusch. Stein ging jetzt direkt hinter Sommer her und hörte ein seltsames Klirren, während Sommer seine Waffe zog und sich in Position stellte.
    Â»Wenn Sie nicht stehen bleiben, schieße ich!«
    Stein stellte sich vor Sommer. »Bist du verrückt? Lass die Waffe stecken, oder hast du das Gefühl, angegriffen zu werden?« Stein ging schneller, um die Gestalt zu überholen. Er rutschte den abschüssigen Weg hinunter, hielt sich an einem Gartenzaun fest und drehte sich um. Seine Miene erstarrte, als hätte er den Leibhaftigen vor sich. An den Hautlappen, die statt der einst wohl vollen Brüste an dem Brustkorb hingen, konnte man erkennen, dass es sich um eine Frau handelte. Sie trug einen Ziegelstein, der an einer schweren Kette hing. Die Kette wiederum war an einem Eisenring befestigt, der um ihren Hals lag. Ihr Kopf war kahl geschoren, und ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Der Blick war nicht leer, sondern tot.
    Aus Steins Mund kam ein Stöhnen, dann brachte er ein »Mein Gott!« zustande und kotzte direkt auf seine Schuhe.
    Die Skelettfrau schien den Beamten weder zu sehen noch zu hören. Sie brabbelte unverständlich vor sich hin und setzte einen nackten Fuß vor den anderen, ohne ins Rutschen zu geraten.
    Sommer hatte aufgeholt. Er stand nun seitlich vor der Frau und glotzte sie angeekelt an.
    Â»Ruf einen Krankenwagen und hol eine Decke aus dem Wagen«, rief er Stein zu. Dann besann er sich eines Besseren und sagte: »Nein, bleib du besser hier, ich mach das«, und lief zum Wagen zurück. Stein wischte sich den Mund sauber und folgtelangsam der Frau, bis er wieder auf gleicher Höhe mit ihr war. »Hören Sie, ich weiß nicht, was Ihnen passiert ist, aber können Sie mich verstehen?«
    Die Frau reagierte nicht. Die weißen dünnen Finger um den Stein gelegt und den Blick ins Nichts gerichtet, setzte sie nach wie vor wie ein Roboter einen Fuß vor den anderen.
    Zehn Minuten später waren ein weiterer Einsatzwagen und ein Krankenwagen vor Ort und brachten plötzlich Leben in die kleine, dunkle Straße. Sensationsgeile Anwohner waren in Pyjamas und Bademänteln vor die Tür getreten, standen mit durchnässten Hausschuhen im Schnee und schauten zu, wie die in eine Decke gewickelte Frau samt Eisenkette und Stein auf eine Bahre geschnallt und in den Krankenwagen geschoben wurde.
    Nachdem auch drei Tage später keine Vermisstenmeldung auf den Polizeistationen eingegangen war, erschien im Hamburger Abendblatt auf der dritten Seite ein kleiner Artikel mit einem Foto von der »Skelettfrau« und der Bitte um Identifikation. Doch es gab niemanden, der sie in diesem Zustand wiedererkannt hätte – außer einem, und der hütete sich davor, mit der
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