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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter
Autoren: Friedrich Ani
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nannte er diese Ereignisse, die etwa fünfmal im Jahr eintrafen. Fünfmal im Jahr leisteten die Kriminalisten Vierundzwanzigstundendienste und hörten nicht eher damit auf, bis ihre Suche Erfolg hatte. Fünfmal im Jahr futterten sie das INPOL-System Tag für Tag mit Informationen über Aussehen, Kleidungsstücke, Familienhintergründe, Freundeskreise, Zeugenaussagen. Faxe an die Dienststellen in allen Bundesländern wurden verschickt, dieselben Angaben in der VERMI/UTOT- Datei des Bundeskriminalamtes gespeichert, um Meldungen über Vermisste mit den Beschreibungen unbekannter Toter abzugleichen. Polizisten kontrollierten S- und U-Bahnen, Spielplätze, Vergnügungszentren. Vom Hubschrauber aus suchten Spezialisten die Gegend mit Wärmebildkameras ab, Hundertschaften und Hundestaffeln waren unterwegs, jede einzelne Beziehung des Kindes – zu Eltern, Großeltern, Freunden und Verwandten – wurde überprüft, und wenn sie sich Hilfe davon versprachen, nutzten die Kommissare die Neugier der Medien für ihre Arbeit.
    »Super-GAU«, sagte Funkel zum zweiten Mal zu Veronika Bautz, seiner Assistentin, schloss die Tür zu seinem Büro und stellte sich ans Fenster, von dem aus er auf den Bahnhofsvorplatz hinunterblickte.
    In diesem Moment ging Tabor Süden über die Straße, die Haare vom Februarwind zerzaust, vornübergebeugt, achtlos. Ganz für sich, dachte Funkel. Er kratzte sich an der schwarzen Augenklappe und dachte an den Fall, dessentwegen Süden beinah aus dem Dienst ausgeschieden wäre. Und doch war er zurückgekehrt und hatte dann einen seit Wochen verschwundenen neunjährigen Jungen wieder gefunden, im letzten Moment, bevor dieser Selbstmord begehen wollte.
    Manchmal, dachte Funkel, der jeden Sonntag den Gottesdienst in der Josephskirche besuchte, wache ich morgens auf, und es ist immer noch Nacht, und den ganzen Tag über bleibt es Nacht, und wir besternen sie mit unserem Wissen, unserem Können, unserer Erfahrung, unseren Computern und unserer Technik. Doch wenn wir innehalten, nur für einen Moment, dann begreifen wir, dass wir gegen die Finsternis machtlos sind, klein wie Kinder unter dem schwarzen Himmel, wir ordnen das Dunkel nur ein, wir katalogisieren Katastrophen. Den Toten, deren Tod wir in einen Zusammenhang einpassen, um ihm einen Sinn zu verleihen, verhelfen wir zu keinem anderen Schlaf als dem, der ihnen zugefügt wurde. Wir sagen dann, nun wissen wir, wie es dazu kam, doch schon in derselben Sekunde ist uns bewusst, dass wir bald, vielleicht schon in der nächsten Stunde, den Koffer, in dem wir unsere Erklärungen, Beweise und Anklageschriften sorgfältig aufbewahren, erneut öffnen werden, voller Überzeugung und Stolz. Wir behaupten, wir seien Profis, das sind wir, was unsere Mittel und Methoden betrifft, aber was uns selbst betrifft, sind wir Laien. Denn das kann man niemals lernen: zu trösten. Wie sollten wir es auch lernen? Nicht einmal Gott versteht uns zu trösten, dabei sollte er sein Handwerk beherrschen. Es ist zu dunkel, um das Glück zu erkennen, wir können nur den Schmerz ertasten, deswegen tragen wir Handschuhe, damit wir nicht erschrecken, und wir dürfen nicht erschrecken, denn unsere Aufgabe ist es, den Schmerz hundertprozentig nachvollziehbar zu machen. Dafür erhalten wir Steuergelder, dafür bilden wir uns fort in Kursen für immer raffiniertere Tricks, dafür belobigt uns der Staat im Namen der Hinterbliebenen. Es gibt Tage, an denen ist es draußen so dunkel wie in meinem toten Auge, und obwohl es tot ist, sammeln sich manchmal Tränen darin. Und wenn ich zum Himmel hinaufschaue wie jener neunjährige Junge auf den Klippen über dem Meer, dann frage ich mich, ob Er womöglich vor langer Zeit erloschen ist, wie mein Auge.

4
    » J etzt setzen Sie sich!«, sagte Wolf de Vries. Süden hatte bereits dreimal Nein gesagt.
    »Ich habe Ihren Chef gebeten, dass Sie meine Tochter mit allen Mitteln suchen sollen, also handeln Sie! Sie sind Kommissar, Sie sollen nicht reden, sondern Maßnahmen ergreifen. Das habe ich auch schon Ihren Kollegen und Ihrem Vorgesetzten erklärt.«
    »Unsere«, betonte Süden. »Unsere Tochter.«
    »Bitte?« De Vries öffnete die zwei unteren Knöpfe seiner Strickjacke.
    »Ist Julika nicht Ihre Tochter?«, fragte Süden die Frau, die auf dem Rand des Sessels saß. Er stand mit dem Rücken zum Fenster.
    »Natürlich!«, sagte de Vries laut. »Was reden Sie denn? Natürlich ist meine Frau Julikas Mutter. Zeigen Sie mir bitte noch mal Ihren Ausweis.«
    Süden
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